Mit soziologischen Abhandlungen auf die Bestseller-Liste kommen? Eva Illouz kann das. Sie ist eine der bekanntesten Vertreterinnen ihres Faches, ihr wichtigstes Thema: Gefühle. Zu ihren viel gelesenen Büchern gehören die Bände "Warum Liebe weh tut" und "Warum Liebe endet" – Illouz hat untersucht, wie Gefühle in der Konsumkultur zur Ware werden und wie Populisten gezielt mit "undemokratischen Emotionen" arbeiten.
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Von Hoffnung und Neid
"Explosive Moderne" nun, das neue Buch von Eva Illouz, will die inneren Widersprüche einer ganzen Epoche sichtbar machen – an Gefühlen wie Zorn, Neid, Furcht, Nostalgie, Scham oder Stolz. Unter "Moderne" versteht Illouz dabei mehr als einen Zeitraum, es geht ihr um eine "historische Dynamik" unterschiedlicher Entwicklungen. Dazu gehören der Bruch mit Tradition und Religion, die Idee, alle Menschen seien grundsätzlich gleich, außerdem eine "technologiegestützte Kultur mit ihrem endlosen Strom von Bildern des guten Lebens".
Auf die Einzelnen also kommt es an, sie haben ein Recht auf Freiheit und Entfaltung, sind aber für ihr Glück auch selbst verantwortlich. Dafür steht der "amerikanische Traum", ein klassisches Motiv der Moderne, verbundenen mit den großen Gefühlen Hoffnung, Enttäuschung und Neid. Das Versprechen, jede und jeder könne es schaffen, wird fast nie erfüllt, der Kapitalismus hat den Neid, der in der christlichen Tradition zu den Todsünden zählte, als Treiber des ökonomischen Fortschritts entdeckt. Gut fühlt er sich dennoch nicht an.
Was müssen wir wirklich fürchten?
Das ist eine der vielen Spannungen im emotionalen Haushalt der Moderne, die Illouz beschreibt. Ein anderes Beispiel: Furcht. Der neuzeitliche Staat, auch der liberale, zieht seine Legitimation aus der Zusage, Bürgerinnen und Bürger vor Gewalt zu schützen, innerer wie äußerer. Genau das aber habe, so Illouz, zu einer Vervielfachung öffentlicher Ängste geführt, zu Ängsten vor Terrorismus, Straßengewalt, der Macht Chinas oder dem Klimawandel.
Illouz betrachtet Politik und Geschichte, zieht Theorie heran – und immer wieder Literatur. Homer, Proust und Jane Austen kommen vor, an "Michael Kohlhaas" von Heinrich von Kleist verhandelt das Buch unbändigen Zorn gegen Ungerechtigkeit, an Flauberts "Madame Bovary" eine Unzufriedenheit bürgerlichen Lebens, die sich in schwelgerische Fantasien flüchtet. Gefühle sind etwas Innerliches und zugleich gesellschaftlich geformt, sie sind, schreibt Illouz, "der Dialog, den wir sotto voce mit der Welt führen". Und dafür interessieren sich Literatur und Soziologie gleichermaßen.
Das Gefühl – und der ganze große Rest
Eva Illouz spannt in ihrem lesenswerten und gut lesbaren Buch weite kulturgeschichtliche Bögen auf. Das kann sehr erhellend sein – ist zugleich aber auch ein Problem. Wenn Illouz etwa im Zusammenhang mit radikalem Zorn innerhalb weniger Absätze von Kleists Kohlhaas über den Arabischen Frühling, Black Lives Matter, Osama Bin Laden und wieder zurück zu Kohlhaas führt, dann wird zwar das Vergleichbare in der Emotion und ihrer Mobilisierung sichtbar. Die historischen und politischen Kontexte aber bleiben vage.
Mit der Arbeit an einer "Grammatik der Gefühle" bekommt man die Misere der Moderne noch nicht zu fassen. Es käme darauf an, Machtverhältnisse und Überzeugungssysteme genauer zu verstehen, die dem Gefühl ihren Stempel aufdrücken.
"Explosive Moderne" von Eva Illouz ist in der Übersetzung von Michael Adrian bei Suhrkamp erschienen.
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