Fjodor Dostojewskis Romane zu lesen ist ja immer ein Gewinn, und in diesem Fall sogar ein besonders hoher: Regisseur Andreas Gergen hat sich nach eigenen Worten zu seiner Inszenierung von "Jesus Christ Superstar" von dem russischen Klassiker ("Die Brüder Karamasow") inspirieren lassen. Dort kommt Jesus im 16. Jahrhundert noch mal auf die Welt, um die Menschheit in Augenschein zu nehmen, aber der Großinquisitor gibt ihm mehr als deutlich zu verstehen, dass die Anwesenheit von Erlösern und Heilsbringern aller Art hienieden nicht mehr erwünscht ist.
Der Grund liegt auf der Hand: Institutionen, auch kirchliche, sind per Definition auf Machterhalt orientiert, also zutiefst statische, unbewegliche Einrichtungen. Revolutionäre dagegen wollen den Umsturz, die Neuordnung der Verhältnisse und sind somit Berufs-Dynamiker. Beides geht nicht zusammen.
Pontius Pilatus ist Kardinal
Und so zeigt Andreas Gergen seinen Jesus als Mahatma-Gandhi-Bewunderer im Netzhemd und Pluderhose, der sich mustergültig seiner Regenbogen-Kleinfamilie widmet und mit seiner androgynen Erscheinung, seinem Kajalstift-Make-up und seinem sanftmütigen Auftreten den Vatikan aufmischt. Na klar werden Schlagzeilen zu den aktuellen Skandalen der katholischen Kirche eingeblendet, sind alle Bischöfe bösartige Intriganten und der Papst tanzt als hinterlistiger König Herodes Charleston unterm Baldachin. Dafür gab es am Staatstheater Nürnberg begeisterten Applaus, der auch völlig in Ordnung ging, schließlich bietet die Institution Kirche, auch die evangelische, derzeit wahrhaft genug Angriffsfläche.
Insofern bietet sich Rom statt Jerusalem schon als Ort der Handlung an, wenn Andreas Gergen auch nicht ganz die Hierarchie einhält: Bei ihm ist Pontius Pilatus nur Kardinal, obwohl der römische Statthalter bekanntlich König Herodes übergeordnet war, also das letzte Wort hatte. Aber das sind lässliche Ungereimtheiten. Insgesamt macht die Inszenierung schwer Eindruck mit ihrem Aufwand, ihrem Drive und ihrer klaren Botschaft, die Welt bunter, diverser, toleranter, kurz und gut: lebenswerter zu machen.
Der Schluss erinnert an "Lohengrin"
Ausstatter Momme Hinrichs und Kostümdesignerin Aleksandra Kica lassen ihre Jesus People im Schatten des Petersdoms picknicken, einen Gottesdienst stören, Andenkenhändler piesacken und machen die Sixtinische Kapelle zu einem Folterkeller, in dem Jesus ausgepeitscht wird - während die Zuschauer mitzählen können. Die Kommune schwingt ihre bunten Banner, greift zur Klampfe und lässt sich von Apostel Simon Zelotes in einen revolutionären Rausch hineinagitieren.
Das war 1971, als das Musical uraufgeführt wurde, sicher näher am Lebensgefühl als heute, wo der Veränderungsdruck vorzugsweise von rechts und ganz rechts kommt. Der Schluss erinnert bei Andreas Gergen fast schon an Richard Wagners "Lohengrin", bei dem auch ein kindlicher Erlöser im Gegenlicht erscheint, um in eine bessere Zukunft zu weisen.
Das musikalische Finale von Andrew Lloyd Webber machte ja Geschichte, mit der Mischung aus Medien- und Religionskritik. Ausgerechnet Judas, der Verräter, schwebt vom Himmel herab, bringt die Engelchen zum Tanzen und erklärt Jesus zum Superstar. Dirigent Jürgen Grimm steuert mit der Band die nötige Flower-Power bei: Dass Webber aus dem Zeitgeist der Sechziger komponierte, ist nicht zu überhören. Big Band-Sound und Rockoper reichen sich die Hände, manches wirkt, als ob James Last einst Balladen für Marianne Faithfull verfasste. Absolut eingängig, zum Mitwippen, Mitklatschen, Mitfiebern.
Erst Revolzzer, dann Frömmler Lukas
Lukas Meyer in der Titelrolle und Til Ormeloh als Judas gelangen furiose Rollenporträts und stimmlich enorm kraftvolle Nummern. Dorina Garuci war eine sehr zeitgemäße, anrührende Maria Magdalena und Denis Riffel ein Simon Zelotes mit funkensprühendem Sexappeal. Großartig auch die Riege der Bösewichte: Hans Kittelmann als Herodes, Marc Clear als Pontius Pilatus und Alexander Alves de Paula als Kaiphas, dessen tiefe Bassstimme sämtliche Fundamente sprengte.
Dieser "Jesus Christ Superstar" erinnert daran, dass mal mehr Demokratie gewagt werden sollte, mehr Experimentierfreude in Politik und Gesellschaft herrschte. Jetzt ist offenbar Dostojewski angesagt: Der Mann war erst Revoluzzer und dann Frömmler. Wie so was endet, ist in Nürnberg zu erleben.
Wieder am 9. und 17. März am Staatstheater Nürnberg, sowie 2., 5., 12. und 17. April, viele weitere Termine.
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