Auf dem Puschkin-Platz in Moskau am 4. Juni 2023
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"Freiheit für Nawalny": Russische Polizisten nehmen Protestierer fest

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"Jeder Aufruhr unerwartet": Russlands Angst vor Spontanprotesten

"Jeder Aufruhr unerwartet": Russlands Angst vor Spontanprotesten

Alle namhaften russischen Oppositionspolitiker sitzen im Gefängnis oder leben im Exil, aber genau das könnte Putin noch erhebliche Probleme bereiten, so die Meinung von Politologen: Wenn es zu Massenprotesten komme, könne er mit niemandem verhandeln.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Derzeit sei die "Proteststimmung" in Russland eher gering, urteilen kremltreue Soziologen übereinstimmend. Ein fünfminütiger Auftritt von besorgten Soldatenmüttern auf dem Roten Platz in Moskau am Rande einer kommunistischen Kundgebung zum Jahrestag der Oktoberrevolution wurde kaum beachtet. Die Frauen forderten den häufigeren Austausch der Frontsoldaten, was der Vorsitzende im Verteidigungsausschuss des Parlaments bereits zurückgewiesen hatte. Bis zum Ende des Krieges blieben die Mobilisierten im Einsatz. Über die Protestaktion hieß es in einem der populären Blogs: "Die Frauen standen nicht lange mit ihren Plakaten, die Polizei trieb alle schnell auseinander. Gleichzeitig wurde keine der Demonstrantinnen festgenommen, was in diesen Zeiten überraschend ist."

Gefährlich würden solche Vorfälle erst, "wenn jemand den Algorithmus für solche Aktionen bestimmt und ihn manipuliert, um den Druck auf die Behörden zu erhöhen". Das könne dann sogar zu einem abermaligen Putschversuch wie bei der Rebellion des verstorbenen Söldnerführers Prigoschin führen: "Nur, eine gut organisierte Demo wütender Frauen wird schwerer in den Griff zu bekommen sein." Einstweilen seien derartige Vorkommnisse "nicht kritisch" und könnten ignoriert werden.

Obwohl sich der Kreml derzeit sicher wähnt vor größerer Unruhe, warnen die eigenen Fachleute vor den Risiken der massiven Unterdrückungsmaßnahmen. Ihr Hauptargument: Wenn es spontane Proteste gebe, werde Putin keine Ansprechpartner haben, mit denen er verhandeln könne.

"Behörden könnten das noch sehr bereuen"

Ein Beispiel dafür seien die antisemitischen Ausschreitungen in der Kaukasus-Region Dagestan gewesen, wo der Mob den Flughafen stürmte, um nach "Juden" zu suchen. Wie sich herausstellte, hatten dubiose Telegram-Kanäle den Aufruhr mit Hassbotschaften befeuert. Die Behörden wurden völlig überrascht und reagierten zunächst hilflos. Dazu schrieb einer der russischen Politologen: "Im unkontrollierten Protest der Massen (in der Ochlokratie [der Herrschaft des Pöbels]) liegt eine große Gefahr unserer Metropolen. Schon allein deshalb, weil die Leute irgendwo etwas in den sozialen Netzwerken (oder bei Telegram) lesen und auf die Straße gehen. Und wenn das passiert, könnten die Behörden noch sehr bereuen, dass sie alle Oppositionellen inhaftiert haben. Warum? Weil man mit Anführern der nicht systemtreuen Opposition verhandeln könnte, aber es sinnlos ist, an die Masse zu appellieren. Die Menge ist unkontrollierbar."

"Jeder Aufruhr kommt unerwartet"

Ähnlich beurteilte der Soziologe Waleri Prokorow vom "Moskauer Zentrum für angewandte Forschung" die Lage: "Leider erforschen wir in unserem Land die Protestkultur nicht systematisch. Vorhersagen über mögliche Proteste, Unruhen oder Aufstände basieren häufig nicht auf einer Analyse von möglicherweise bedrohlichen Anzeichen, sondern auf Emotionen. Daher kommt jeder Massenaufruhr, unabhängig davon, wo er ausbricht – in einer Metropole, einem ländlichen Gebiet, dem russischen Outback oder einer Nationalrepublik – unerwartet und wird in erster Linie mit Gewalt gestoppt." Es sei jedoch nötig, das "Protestumfeld" in den aktuellen turbulenten Zeiten "ständig zu überwachen, um proaktiv Einfluss nehmen zu können". Dabei reiche es nicht, die "üblichen Verdächtigen" zu beschatten: "Bei der Besetzung des Flughafens in Machatschkala [in Dagestan] durch eine Menschenmenge traten der Öffentlichkeit bekannte Personen erst dann in den Vordergrund, nachdem Unbekannte ihre Arbeit getan hatten."

"Erhebliches Maß an Spannung aufgebaut"

Politikwissenschaftlerin Alina Schestowskaja befürchtet, dass die "passivsten und unpolitischsten Schichten" in Russland am ehesten anfällig seien für unerwartete Wutausbrüche aller Art, denn Gebildete seien durch die Einschüchterungsmaßnahmen des Kremls derart vorsichtig, dass sie nicht mal mehr am Küchentisch "unnötige Dinge" zum Thema machten - schon gar nicht im Gespräch mit Nachbarn.

Soziologin Maria Fil sagte gegenüber einem der größten Telegram-Kanäle für Soziologie mit 320.000 Fans: "In den letzten Jahren, seit der Pandemie, hat sich in der Gesellschaft ein erhebliches Maß an innerer Spannung aufgebaut, die sich, wie die jüngsten Ereignisse gezeigt haben, auf sehr unerwartete Weise und aus einem beliebigen Grund entladen kann. Daher ist die Möglichkeit spontaner Gefühlsausbrüche nicht auszuschließen, insbesondere in Großstädten, in die Menschen ohne feste Beschäftigung, Vertreter krimineller Strukturen und andere an den gesellschaftlichen Rand gedrängte Menschen strömen. Soziale Unzufriedenheit ist in einem erheblichen Teil der Fälle auch oft auf persönliche Gründe zurückzuführen, beispielsweise auf Angst oder einer Instabilität der unmittelbar erlebten Realität."

Kriegsblogger: "Ich bin ratlos"

Was die innergesellschaftliche "Spannung" betrifft, die in Russland zugenommen haben soll, schreibt der Kriegsblogger und prominente Ultrapatriot Alexander Chodakowski (600.000 Abonnenten): "Wir wollen, dass unsere Soldaten Seite an Seite kämpfen und nur den einen Feind vor sich haben, aber gleichzeitig werden immer drängender Fragen aufgeworfen, die die Gesellschaft wissentlich oder unbewusst spalten. Um auf unterschiedliche Weise eine Kriegsdividende einzustreichen, ereignen sich Dinge oder werden Worte gesprochen, die die Gesellschaft erschüttern und dem Feind seine Arbeit erleichtern. Ich kann nicht die vorteilhafte Position eines universell begabten Schlichters einnehmen – ich bin ratlos." Statt "gemeinsam Blut für die gemeinsame Sache" zu vergießen, gebe es immer mehr Stimmen, die "Zahlungen" beanspruchten, die mit ihrem jeweiligen Engagement im Einklang stünden, die also finanziell besser gestellt werden wollten als andere Landsleute.

Der ebenfalls sehr erfolgreiche Kriegsblogger Roman Aljechin (100.000 Fans) bedauerte, dass nicht wenige Russen in der Etappe mal wieder deutlich "blutrünstiger" seien als die Kommandeure an der Front, eine Beobachtung, die schon der preußische Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz gemacht habe: "Je größer die Entfernung und der Abstand zwischen einer Person und ihrem Opfer sind, desto leichter fällt es ihr, über Gewalt zu sprechen, und zwar, wie die Praxis leider zeigt, auch über Gewalt gegen Frauen und Kinder." Aljechin hofft nach eigenen Worten auf Russen, die "gegen den Strom" schwimmen und mehr daran interessiert sind, Menschenleben zu retten statt zu beseitigen: "Ich hoffe weiter auf die Menschen."

"Sind unerwartete Proteste möglich? Ja."

Dagegen glaubt der Politologe Anton Schablin vom Analyseinstitut "Akzente", dass sich der angestaute Frust nicht auf der Straße entladen werde: "Die russische Gesellschaft tendiert stärker zu einer politischen Kultur der Bevormundung, für die Massenproteste im Allgemeinen nicht sehr charakteristisch sind. Der Protest drückt sich vielmehr in einer Vermeidungsstrategie aus – das betrifft sowohl den gesellschaftlichen Rückzug (Menschen 'verpuppen' sich einfach in ihren Häusern und murren unzufrieden auf dem Sofa) als auch die Auswanderung. Die wütendsten und aktivsten Gegner des Geschehens sind gegangen oder werden in naher Zukunft gehen. Für sie ist das besser, als auf die Straße zu gehen und zu protestieren." Insofern seien Unruhen "nahezu ausgeschlossen".

Wadim Samudurow von der russischen "Agentur für strategische Kommunikation" ist nicht so zuversichtlich. Er behauptet, die russische Gesellschaft habe sich einerseits in den vergangenen zehn Jahren "politisiert", andererseits gebe es allein in Moskau rund zwei Millionen Muslime. Von denen wolle "ein erheblicher Teil nicht nach russischen Gesetzen leben". Das destabilisiere die Gesellschaft, so Samudurow mit fremdenfeindlichem Unterton: "Sind unerwartete Proteste in Russland möglich? Ja. Sowie Massenunruhen und die Besetzung wichtiger Verkehrsadern und anderer strategisch wichtiger Objekte." Vor allem der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow sorgt mit seinem aggressiven islamistischen Gebaren in weiten Teilen Russlands für Irritation, zumal Putin ihn (noch) gewähren lässt, vermutlich, um im Kaukasus Ruhe zu haben.

Putin lässt "Netz-Polizisten" ausbilden

Der Kreml will offenbar eine Doppelstrategie fahren, um die Gefahr von Unruhen minimal zu halten. Einerseits soll der Krieg im Präsidentschaftswahlkampf nur sehr am Rande thematisiert werden, will das Exil-Portal "Medusa" von Insidern erfahren haben. Stattdessen solle in den Medien betont werden, Putin habe das Land zur einer "Insel der Stabilität" gemacht. Im Übrigen werde die Propaganda verstärkt den Westen schmähen, die USA stünden "kurz vor dem Zusammenbruch". Die Risiken einer weiteren ukrainischen Gegenoffensive hätten sich deutlich verringert, ein "schwarzer Schwan", also eine unliebsame Überraschung größeren Ausmaßes, sei unwahrscheinlich geworden. Gleichzeitig begann der Kreml mit der Ausbildung von "Netz-Polizisten" nach chinesischem Vorbild, plant also eine noch strengere und effektivere Zensur. Auch russische Staatsanwälte sollen in China "fortgebildet" werden.

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