"Schlaraffenland abgebrannt": Schon der Titel des neuen Buches von Michel Friedman ist alarmierend, steht "Schlaraffenland" doch seit dem Mittelalter für ein Wunschland, wo kein Hunger und keine Not herrschen, ja für einen Ort, an dem es den Bewohnern an nichts mangelt. So, dass sie faul werden, sich treiben, sich gehen lassen. Für Michel Friedman ist das Schlaraffenland "ein Land, oder das ist eine Sehnsucht von Menschen nach Verantwortungslosigkeit, jedenfalls einer Reduktion von Verantwortung – Verantwortung strengt an".
Die Schlaraffen: Träge im Geiste und im Herzen
Wie im Märchen, so ist das Schlaraffenland auch für Friedman keine fest umrissene Region, sondern ein Ort, an dem eine Gesellschaftsvorstellung herrscht, in der man – wie er sagt – nur nehme und kaum gebe und man gegenüber Problemen gleichgültig sei oder so tue, als ob man mit ihnen nichts zu tun habe: "Gesellschaftspolitisch haben wir das ja seit Jahrzehnten sehr geübt: Immer wenn es zu Problemen kam in der Makrowelt, dann hat man die Bundesregierung gerne ermutigt, mit Schecks das alles zu bezahlen. Und das Schlaraffenland liebt eigentlich das Schild 'Do Not Disturb', also 'Bitte nicht stören'", so Friedman im BR.
Noch in diesem Jahrzehnt
Wenn überall anders Menschen in Not sind – egal ob wegen Krieg, Hunger, Seuchen "oder was auch immer" – würden wir dieses Schild gerne aufhängen, so Friedman, und zwar sowohl privat als auch kollektiv. Doch das funktioniere nicht mehr: "Das Problem unserer Gegenwart ist nur: Die Tür ist nicht mehr da für dieses Schild, weil die Krisen, die wir selbst durch diese Art von Leben verdrängt und verschoben haben, – strukturelle Krisen wie Schule, wie Geostrategie, wie Digitales, wie Infrastruktur, wie auch das große Thema Klima – so viele Jahrzehnte hinterherlaufen, dass wir eigentlich schon so hinter der Zeit sind, dass man es nicht mehr aufholen kann. Aber wenn überhaupt, dann noch in diesem Jahrzehnt", warnt Friedman im BR. Wenn das nicht passiere, werde nicht nur Deutschland, sondern die Europäische Union in die Bedeutungslosigkeit verfallen.
"Wir müssen es nur tun"
So düster diese Prognose ist, so entschieden wehrt sich Friedman gegen den grassierenden Frust und Fatalismus: Er sei weder frustriert, noch pessimistisch, auch nicht hilflos. Er appelliert an unser Vermögen zur Veränderung, auch wenn, wie er weiß, Schlaraffen dazu neigten, nichts an ihrem Wohlstand, an ihrer Lebensqualität verlieren und verändern zu wollen. "Wir sind in der Lage, als Menschen, all solche Situationen, auch Probleme, die Menschen immer wieder haben, auch Staatengesellschaften umzudrehen." Er könne den Satz 'Ja, was sollen wir denn tun?' nicht ertragen, ebenso wenig den Satz: 'Es ist schon zu spät, etwas zu tun.' Friedmann findet: "Wir müssen es nur tun."
"Die Angst muss beherrschbar werden"
Die Hürde, die es zu nehmen gilt, heißt Angst. Friedman weiß, dass dieses Gefühl "eines unserer Urgefühle wie die Sexualität" ist, sie sei quasi überlebensnotwendig und daher nicht zu vernichten. Was Friedman vorschlägt, ist eher ein Kanalisieren der Angst, wodurch sie ihre diffuse Emotionalität verliere und in klare Bahnen gelenkt werde: "Die Angst muss beherrschbar werden. Sonst würde der Mensch durch Angst seinen Verstand blockieren. Und wenn der Verstand blockiert ist, wird der Mensch auf jeden Fall das Falsche machen. Die Schlaraffenländer haben nicht geübt, gelernt, vorbereitet. Dadurch können sie schlecht argumentieren, und sie reagieren extrem emotional".
Deswegen brüllten wir uns momentan so an, monologisierten, sagten, der Andere ist doof, weil uns die Argumente selber fehlen, sagt Friedman. Und rät uns unsere Argumentationskraft und Vernunft wieder Schritt für Schritt zu stärken: "Endlich üben, aus Angst Furcht zu machen und wieder dem vernunftsargumentativen, rationalen und faktenbezogenen Wissen, uns zu nähern, um dann eine Vielfalt von Therapien zu ermöglichen oder zu sehen, welche die Beste ist."
Michel Friedman: "Schlaraffenland abgerannt. Von der Angst vor einer neuen Zeit" ist im Berlin Verlag erschienen.
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