Es mache ihn stolz und bedeute ihm viel, sagt Rezo Gigineishvili, dass der Preis die persönliche Wahl von Werner Herzog sei. Die letzten Dreharbeiten fielen in die Anfangstage des Krieges gegen die Ukraine. Daher habe er sich kaum vorstellen können, wie lange es dauern würde, bis "Patient Nr.1" herauskomme. Nun ist er da, und die Unterstützung durch Werner Herzog habe Gewicht.
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Russland vom Spital aus regiert
"Der Film zeigt das Auseinanderfallen eines Imperiums im Detail. Das ist ein unglaublich starker Film, mutig und richtig schön anzuschauen", sagt Werner Herzog. Vierzig Jahre trennen den Preisträger Rezo Gigineishvili vom Preisstifter Werner Herzog – und doch verbindet den 41-jährigen und den 81-jährigen die Suche nach einer tieferen, poetischen Wahrheit. Selbst wenn es um etwas so Unpoetisches wie Politik geht, in diesem Fall: um das Siechtum des schon todkrank ins Amt gekommenen sowjetischen Staatsoberhaupts Konstantin Tschernenko. Er ist der "Patient Nr. 1", der – nur kurz, von 1984 bis 1985 an der Macht – das Land vom Spital aus regierte.
"Ich wollte zeigen, wie das ist, wenn der Herrscher eigentlich schwach und wehrlos ist. Er liegt im Krankenhaus und denkt, die Leute brauchen ihn. Er weiß, dass er sterben wird und sträubt sich dagegen. Gleichzeitig glaubt er, über Macht zu verfügen, weil er ja auf den Atomknopf drücken könnte". sagt Rezo Gigineishvili. Sein Spielfilm "Patient Nr. 1" zeigt das letzte Aufbäumen eines Diktators, dessen wahrer Gesundheitszustand vor der Bevölkerung geheim gehalten wird. Tag und Nacht betreut ihn eine Krankenschwester. Auf Tschernenko, großartig gespielt von Aleksandr Fillipenko, sollte als Generalsekretär der KPdSU und Vorsitzender des Obersten Sowjets ein gewisser Michail Gorbatschow folgen. Mit dem hat Werner Herzog 2017 den aufschlussreichen Interview-Film "Meeting Gorbatschow" gedreht – und in einer Sequenz auch Tschernenko gezeigt.
Eine Parabel der Macht
Darin zeigt Herzog Archivaufnahmen, wie Tschernenko zur Wahlurne geführt wird. "Das ist aber kein wirkliches Wahllokal, sondern man hat sein Krankenzimmer mit Kulissen schnell zu einem Wahllokal umgebaut, und er geht ein paar Schritte aufrecht zur Urne. Und dann in dem authentischen Fernsehmaterial sieht man auf einmal, wie eine Hand ihn von hinten an der Hüfte stützt und greift, damit er nicht umkippt und seine Stimme noch abgeben konnte. Das war ein Moment, der hat mir sehr großen Eindruck gemacht, weil er so authentisch war", so Herzog. Und Rezo habe diesen Moment auch gefilmt, aber sei vom Original abgewichen. Bei ihm halte Tschernenko noch eine ganz kurze Rede und werde erst dann wieder in den Rollstuhl gesetzt und falle ins nächste Koma."
Eine tagespolitische Deutung von Rezo Gigineishvilis Film, der in nur 17 Tagen in Moskau gedreht wurde, verbietet sich für Werner Herzog. Für ihn wie auch für Rezo Gigineishvili selbst ist "Patient Nr. 1" eine Parabel der Macht. Die Lage ist für den georgischen Regisseur, der sich bei heiklen Fragen lieber auf Russisch äußert, ohnehin derzeit mehr als schwierig, da er noch Angehörige in Russland hat.
Rezo Gigineishvili: "Da kommt viel Gewalt auf uns zu"
Er versuche im Moment herauszufinden, was er in Europa oder anderswo machen könnte, was anbieten, wie sich einbringen. "Es ist bitter, dass es so gekommen ist. Wenn ich auf mein noch nicht so langes Leben zurückblicke, haben sich immer kurze Augenblicke des Glücks mit Krieg abgewechselt. In Georgien gab es ja auch Krieg, und nicht nur einen. Und nach dem Krieg erwartet uns ja auch eine tragische Zeit, denn die Menschen kommen traumatisiert aus dem Krieg, da kommt viel Gewalt auf uns zu. In einer Sekunde ist alles zerstört."
Es ist kein geringes Verdienst von Werner Herzog, immer wieder vielversprechende cineastische Talente zu entdecken und bekannt zu machen, 2017 hat er in München die spätere Oscar-Preisträgerin Chloé Zhao ("Nomadland")ausgezeichnet. Nebenher dreht und schreibt Werner Herzog. "Die Zukunft der Wahrheit" heißt sein neues Buch, das im kommenden Frühjahr auf Deutsch und jetzt schon auf Englisch erscheint. Er habe einen massiven literarischen Output im Moment. "Und morgen bereits bin ich in den USA in New York, weil am Dienstag, 10. Oktober, wird die englische Übersetzung herausgebracht, und es gibt ein außerordentliches Interesse, bei den Medien und auch in der Leserschaft, Vorbestellungen riesengroß und Veranstaltungen mit 1.100 Menschen, die innerhalb von zehn Minuten ausverkauft waren, da tut sich was. Und ich sage ja immer. Es ist schön, dass langsam entdeckt wird, dass ich auch jemand bin, der schreibt."
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