In Cornelia Koppetschs von den Feuilletons gefeiertem Buch "Die Gesellschaft des Zorns" fällt an einer Stelle der Ausdruck "ein Stück Begriffspolitik". Es lohnt sich, die Begriffspolitik der Darmstädter Soziologin, ihren Umgang mit Begriffen und Formulierungen anderer Autoren, unter die Lupe zu nehmen. So liest man zum Beispiel in ihrem Buch auf Seite 113:
"Als maßgeblich erscheint ein kosmopolitischer Lebens- und Kulturstil, der sich nicht mehr über einen hervorragenden Umgang mit nationalen Bildungsgütern definiert, sondern über die Fähigkeit zur Polyvalenz verfügt, um sich in einer sich globalisierenden Welt zurechtzufinden und Ländergrenzen nicht nur räumlich, sondern vor allem auch symbolisch zu überschreiten. Der kosmopolitische Lebensstil schöpft seine Überlegenheit daraus, Neugierde als Prinzip des Umgangs mit fremden Menschen oder Kulturen verinnerlicht zu haben."
Diese Sätze werden von der Autorin als ihre eigenen ausgegeben. Hierbei handelt es sich um eine in der Wissenschaft so genannte „Bauernopfer-Referenz“: Zwar weist die Autorin jene Sätze, die unmittelbar vor der in Rede stehenden Stelle stehen, als Zitat aus einem 2018 publizierten Fachzeitschriften-Aufsatz von Klaus Kraemer aus („Sehnsucht nach dem nationalen Container. Zur symbolischen Ökonomie des neuen Nationalismus in Europa“, Leviathan, 2018), schreibt dann aber dem Anschein nach im eigenen Fließtext weiter. Dieser Fließtext ist allerdings stark an das zuvor zitierte Original angelehnt, wie die folgende Passage aus Klaus Kraemers Aufsatz zeigt, der auch im 2018 von Karina Becker, Klaus Dörre und Peter Reif-Spirek herausgegebenen Sammelband "Arbeiterbewegung von rechts?" erschienen ist. Dort heißt es auf Seite 307:
"Aufgewertet wird ein kosmopolitischer Lebensstil, der sich nicht mehr über einen virtuosen Umgang mit nationalen Bildungsgütern definiert. Als maßgeblich erscheint vielmehr die habituelle Fähigkeit, in einer sich globalisierenden Welt mit kultureller oder ethnischer Differenz vorurteilsfrei umzugehen, Ländergrenzen nicht nur räumlich, sondern vor allem auch symbolisch zu überschreiten und den kulturellen Konventionen unterschiedlichster Weltregionen offen gegenüberzutreten ... Der kosmopolitische Lebensstil schöpft seine symbolische Überlegenheit daraus, Neugierde gegenüber fremden Menschen und Kulturen zu wecken."
Paraphrasierte Sätze, übernommene Formulierungen
Aus dem Sammelband "Arbeiterbewegung von rechts?", der bei Cornelia Koppetsch im Literaturregister nicht verzeichnet ist, hat die Autorin allem Anschein nach weitere Sätze und Formulierungen übernommen oder aber nur ganz leicht paraphrasiert. Da wird dann aus den "abwärtsmobilen Flugbahnen im sozialen Raum", von denen Klaus Dörre in seinem Aufsatz "Rassismus, völkischer Populismus und die Arbeiterfrage" spricht (Seite 61 im Sammelband), bei Cornelia Koppetsch die "abwärtsmobile soziale Flugbahn" (Seite 142).
Ein weiteres Beispiel:
"Seit den 1980er Jahren wurden Märkte sukzessive nationalstaatlich entbettet, sind Unternehmen transnationaler, politische Institutionen europäischer und Bildungssysteme internationaler geworden. Damit einhergehend hat die Frequenz und Reichweite beruflich oder privat bedingter Mobilität über nationale Ländergrenzen und Lebenswelten hinweg deutlich zugenommen."
So schreibt es Klaus Kraemer in seinem Aufsatz (Seite 304 im Sammelband). Bei Cornelia Koppetsch ist auf Seite 107 ihres Buches zu lesen:
"Seit den 1990er-Jahren sind Märkte sukzessive nationalstaatlich entbettet und Bildungssysteme internationalisiert worden, Unternehmen sind transnationaler und politische Institutionen europäischer geworden (Krämer 2018; Pries 2008; Vobruba 2012). Damit einhergehend haben die Frequenz und Reichweite beruflich oder privat bedingter Mobilität über Ländergrenzen und Lebenswelten hinweg deutlich zugenommen (Mau 2007)."
Abgesehen von der abweichenden Datierung (1980er vs. 1990er Jahre) behauptet Koppetsch an dieser Stelle, sich auf den Soziologen Steffen Mau zu beziehen (in welcher Weise genau, bleibt unklar), kopiert aber de facto Klaus Kraemer, wie der Vergleich beider Bücher zeigt. Die Zitationsweise in Koppetschs Buch, so sie denn erfolgt, scheint hier wie auch andernorts ganz offenbar nicht den gängigen wissenschaftlichen Standards zu entsprechen.
Koppetsch selbst stellte dazu am 7. November in einem Schreiben an die Veranstalter des Bayerischen Buchpreises 2019 fest: "Richtig ist allerdings, dass mir bedauerlicherweise an einigen Stellen Fehler insoweit unterlaufen sind, als eine Quellenangabe angebracht gewesen wäre." Ihr Verlag Transcript werde "eine neue Auflage veranstalten, in der sämtliche Monita berücksichtigt werden".
Der "Monita" sind viele. Auf Seite 211 ihres Buches steht:
"In den Städten werden die gemischten Viertel der Mittelstandsgesellschaft von der räumlichen Segregation zwischen den ‚attraktiven Vierteln‘ der Akademiker und den Quartieren in den sogenannten ‚sozialen Brennpunkten‘ abgelöst ... Analoges gilt auch für die räumliche Polarisierung von Boomregionen und abgehängten Regionen. Darüber hinaus segregieren sich auch die ‚Verkehrskreise‘: Klassenübergreifende Freundschaften und Partnerschaften sind seit den 1990er-Jahren deutlich zurückgegangen (Putnam 2008)."
Zum Vergleich: In dem mit dem Bayerischen Buchpreis 2017 ausgezeichneten Buch von Andreas Reckwitz, "Die Gesellschaft der Singularitäten", steht auf Seite 281:
"Besonders deutlich in den Städten werden die gemischten Wohnviertel der Mittelstandsgesellschaft von der räumlichen Segregation zwischen den ‚attraktiven Vierteln‘ der Akademiker und den ‚schwierigen Vierteln‘ der Unterklasse abgelöst. Vergleichbares gilt für die räumliche Polarisierung zwischen den Boomregionen und den ‚abgehängten‘ Regionen. Es ist nicht verwunderlich, dass klassenübergreifende persönliche Beziehungen (auch in der erweiterten Familie) und entsprechende Partnerschaften zwischen Individuen aus unterschiedlichen Milieus seit den 1990er Jahren im Verhältnis zur organisierten Moderne deutlich zurückgegangen sind."
Diese bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen Koppetschs Buch und dem von Andreas Reckwitz ist nur eine von zahlreichen. In der Musik würde man wohl von einem "Mashup" sprechen: einem Amalgamieren von Sätzen und Formulierungen verschiedener anderer Autoren zu einem Text, der dann als der eigene ausgegeben wird. Man mag das, einen Buchtitel von Botho Strauß variierend, die Fehler der Kopistin nennen. Aber ist es nur ein lässlicher Fehler, wenn Cornelia Koppetsch auf Seite 159 ihres Buches die Formulierung „lebensweltlicher Damm gegen Verunsicherung und Vereinzelung“ als ihre ausweist, wenn sie doch dem 1991 erschienen Buch "Status und Scham" von Sighard Neckel (Seite 161) entstammt?
Stellungsnahme von Koppetsch und ihrem Verlag
Cornelia Koppetsch schreibt in "Die Gesellschaft des Zorns" auch über ihre Zunft (Seite 144): "Akademiker, die sich nicht rechtzeitig auf neue Methoden des Wissens- und Wissenschaftsmanagements eingestellt haben, sondern am traditionellen Ethos ihrer Profession festgehalten haben, können mitunter böse Überraschungen erleben." Man ist geneigt zu sagen: Auch jene Akademiker können böse Überraschungen erleben, die nicht am traditionellen Ethos ihrer Profession festgehalten haben.
Der Transcript-Verlag hat Koppetschs Buch, das ebenfalls auf der Shortlist für den NDR Kultur Sachbuchpreis stand, heute zurückgezogen. Der Verlag und die Autorin räumen in einer Stellungnahme gegenüber NDR Kultur ein, dass das Buch Textübernahmen enthalte, die als Zitate hätten gekennzeichnet werden müssen. Man sei gegenwärtig dabei, die gegen das Werk erhobenen Vorwürfe eingehend zu prüfen und etwaige Beanstandungen im Rahmen einer Neuauflage auszuräumen. Nach Angaben des Verlags ist das Buch seit heute nicht mehr im Handel zu erwerben.
Unsere Korrekturen:
Die erste Passage über Koppetschs Übernahme von Klaus Kraemer - über die so genannte "Bauernopfer-Referenz- haben wir ergänzt.
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