Zunächst heißt es auch für deutsche Medien: Aufhorchen! Es gibt nun ein Programm, das auf nahezu jede Frage eloquent eine Antwort formuliert. In Sekunden. Die Rolle der Medien als Weltvermittler wird somit attackiert. Auch Tech-Giganten wie Google haben längst erkannt, dass eine Antwort-Maschine wie aktuell der ChatGPT eine Bedrohung des bisherigen Geschäftsmodells bedeutet. Dieses mit künstlicher Intelligenz (KI) arbeitende Basismodel (foundation model) verändert den Markt radikal, gilt somit als disruptiv. Das Nachfolgemodel GPT-4, das dieses Jahr seinen roll-out haben dürfte, wird die Dramatik der Umwälzung weiter verstärken. Wird die Fähigkeit der KI, selbst zu lernen, sich noch weiter verbessern, erleben wir einen weiteren Quantensprung.
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KI erreicht Massenpublikum
Google will sich vom ChatGPT nicht in die Ecke drängen lassen. Schon gar nicht vom Microsoft-Konzern, der vor hat, die KI als ersten Schritt in seinen Cloud-Dienst aufzunehmen. An weiteren Bots in Konkurrenz zum ChatGPT arbeiten mehrere Unternehmen.
Künstliche Intelligenz wird damit einem Massenpublikum als Service angeboten werden. Und der spielerische, auch begeisterte Umgang mit ChatGPT zeigt, dass die Berührungsängste gering sind. Was also blüht klassischen Medien? Wenn sich die Art der Kommunikation verändert, dann können sie selbst nicht stehen bleiben.
Strategie: Dialog und Identität
Kundenkontakt heißt nicht allein, eine Leserbriefseite zu haben, regelmäßig eine Publikumsbefragung zu machen oder stolz zu sein auf "engagement", also Likes und Kommentare unter Angeboten auf Sozialen Medien. Nähe zum Publikum heißt jetzt umso mehr echter, ständiger, menschlicher Dialog: Was interessiert Dich, zum Beispiel in Deiner Region? Wie können wir Deine Probleme lösen? Welche Antworten brauchst Du noch heute? Natürlich ist dies schon jetzt das Ziel der Redaktionen, nicht nur der "Ratgeberseite". Aber manchen fehlt dennoch der unmittelbare Kontakt zum Kunden. KI-Chats sind dagegen 24 Stunden lang ansprechbar. Sie werden künftig noch smarter, menschenähnlicher, durchaus einfühlsamer antworten als bisher.
Um den Publikumsdialog auf eine andere Ebene zu heben, experimentiert BR24 bereits damit, Hinweise aus Publikums-Kommentaren direkt in unsere Recherchen aufzunehmen und zu kennzeichnen. Kundenbindung durch Einbindung in Stories. Die Ergebnisse werden wir im Frühsommer präsentieren. Aber auch dies ist nur der Anfang. Medien müssen den Dialog aktiv organisieren. Und sie sollten zudem anschaulich machen, was sich gerade durch KI verändert, wo auch ihre Grenzen liegen. Wir haben dies über die erste Live-Talkshow mit einem GPT-Roboter versucht.
Eine wichtige Frage: Worin sehen Menschen den besonderen Wert einer Redaktion, wenn ein Chat schneller antwortet? Weil eine Zeitung oder ein öffentlich-rechtlicher Sender mehr als bisher Menschen für Dialog vorhält. Weil Medien den Service-Gedanken noch stärker leben. Weil sie in den Regionen verankert sind. Weil sie Traditionen kennen und die Identität der Menschen verkörpern.
KI-Chats bieten dagegen keine lokale und regionale Verwurzelung. Sie könnten diese nur simulieren oder sprachliche Einfärbungen übernehmen. Sie haben aber keine Identität. Kein Herz. Jede Emotion wird vorgegaukelt. Das dürften die Menschen spüren.
Korrespondenten in Schlüsselrolle
Was sind weitere Antworten auf Angebote wie ChatGPT? Der Korrespondent. Die Reportage. Die Analyse. Der Kommentar. Also die individuelle Meinung eines Journalisten, sie hat immer die unersetzbare menschliche Perspektive. Auch Korrespondenten sind zunehmend in einer Schlüsselrolle: Noch gibt es keine Roboter, die Länder bereisen und Eindrücke schildern. Der Korrespondent eines Qualitätsmediums ist und bleibt eine Zusatzversicherung, dass wir über Entwicklungen anderswo bestens informiert sind.
Ein KI-Chat kann Informationen sammeln und gut verpacken. Aber was zählt mehr als die Aussage eines Korrespondenten, etwas mit eigenen Augen gesehen zu haben? Korrespondenten mit Ortskenntnis und einem guten Netzwerk können auch Informationen in Sozialen Medien verifizieren, etwa diejenigen, die derzeit aus dem Iran kommen. KI kann auch bei der Verifikation von Bildern unterstützen. Das Wichtigste bleibt aber das eigene, selbst aufgenommene Foto oder Video. Deshalb könnten sich Qualitätsmedien fragen, ob sie Zugriff auf ausreichend Korrespondenten und auch eine Verifikationseinheit haben. Auch bei BR24 arbeiten solche Spezialisten.
"Erkläre mir die Welt"
Das umkämpfteste Feld im Wettbewerb zwischen KI-Model und klassischem Journalismus könnte künftig der Bereich des Erklärens werden. Im Moment ist ChatGPT noch anfällig für Fehler und Trugschlüsse. Sollten das nur "Kinderkrankheiten" sein, wird seine Konkurrenz zu klassischen Medien wachsen. Die technischen Voraussetzungen sind jedenfalls gegeben, vorhandenes Wissen blitzschnell in gewünschter Länge verfügbar zu machen. Und die Erklärkompetenz eines Sprachmodels basiert ja auf den gesammelten Texten, auch der Medien. Das hat grundsätzlich ein gewaltiges Potenzial.
Die Frage ist also für Journalisten: Was interessiert in der jeweiligen Situation? Was ist abgeleitet vom täglichen Geschehen für die eigenen Kunden der passende Erkläransatz? Was also ist die Zielgruppe des Mediums und was muss diese wissen? Und was kann die Redaktion hier besser leisten als eine KI, die natürlich ebenfalls darauf trainiert werden kann, eine bestimmte Zielgruppe anzusprechen? Was ist letztlich mein menschlicher Zugang zu einem Thema, der auch Andere interessiert?
Veränderte Rolle der Medien
Die Kundenorientierung, seit jeher ein Schlüsselwort der Wirtschaftswissenschaften, wird daher noch wichtiger für Medienunternehmen. Sie hat im Lichte der Entwicklung der KI aber eine andere Ausprägung. Ressourcen dürften umpriorisiert werden. Solange Modelle wie der ChatGPT noch recht fehleranfällig sind, bleibt etwas Zeit sich umzuorientieren. Aber die Frage, welchen Mehrwert eine Zeitung, ein Fachverlag, ein Onlineangebot, ein Podcast oder ein TV-Magazin haben, muss aktiv gestellt werden. Es ist für viele einfach zu bequem, einen KI-Chat zu befragen. Das angepasste Produktversprechen von Medien könnte sein: Wir erklären Dir die aktuelle Lage am besten und zugeschnitten auf Deine Bedürfnisse. Wir checken Informationen, holen dazu sofort Expertenstimmen ein, sind noch immer die passgenausten "Welterklärer".
An dieser Stelle noch ein Appell an die Politik: Medien müssen mehr als bisher Lizenzgebühren verlangen dürfen, wenn KI auf ihre Inhalte zugreift, diese auswertet und neukombiniert. Die "Intelligenz" hängt schließlich vor allem vom Input ab. Und den bieten Medien tagesaktuell.
Zwischenfazit: Auch für Medien hat ein neues Kapitel begonnen. Wenn Menschen Informationen brauchen, dann googeln sie nicht nur, sie sprechen mit einem KI-Chat. Wenn diese künftig auch neueste Nachrichten aufsaugen, dann schwindet der Vorsprung der Medien. Medien können noch am besten erkennen, was Menschen am ehesten benötigen, wenn sie auf Dialog mit ihnen setzen. Dies könnte der entscheidende Vorteil sein.
Wärme als Wettbewerbsvorteil
Bedeutend ist letztlich: Für welchen Service sind Menschen bereit zu zahlen? Sicher dafür, dass jemand die eigenen Bedürfnisse erkennt. Für Service und Problemlösungen. Für echte menschliche, nicht künstlich vorgetäuschte Wärme. Für Identität, die historisch gewachsen ist und nicht von Rechenmodellen erspürt werden kann. Leserinnen und Leser werden verstärkt nachsehen, ob ein Artikel ein Autorenprofil hat. Mensch oder Maschine?
In einem für Traditionsmedien entspannteren Szenario bleibt KI am Rande der Gesellschaft, ein Tool für bestimmte Informationsbedarfe. Gesucht werden noch immer die bekannten Medienmarken. In der Tat sollte man den Vertrauensvorsprung klassischer Medien nicht unterschätzen. Bei einer optimistischen Betrachtung nutzen Redaktionen KI, um weitere Perspektiven zu einem Thema zu finden. Sie können sich auf das Wesentliche, die Recherche, konzentrieren, weil ihnen die KI zum Beispiel die Wetter-, Verkehrs- und Börsennachrichten abnimmt. KI ermöglicht einer Redaktion zudem, für jeden einzelnen Kunden Infopakete zu schnüren, für die diese noch eher bereit sind, zu zahlen. Und Medien könnten wie bisher gebraucht werden, weil sie eben das Wichtigste – aus menschlicher Sicht – bündeln, in einer 15minütigen Tagesschau, einem Newsletter, einem Podcast.
Aber trotz all dieser positiven Effekte: Werbung, mit der sich Medien ebenfalls refinanzieren, könnte im zunehmenden Maße auch bei KI-Chats geschaltet werden. Allein dies könnte Verlage und Sender dazu bewegen, intensiv darüber nachzudenken, wie Kunden gehalten werden können. Eine Paywall wird eine höhere Hürde, wenn ein KI-Chat den gleichen aktuellen Artikel schreiben könnte. Das wäre in der Tat eine Bedrohung für den Medienstandort Deutschland.
Medien bleiben Korrektiv
Aus gesellschaftlicher Sicht ist natürlich klar: Es wird immer von Menschen produzierte Medien geben müssen. Nahbare Qualitätsmedien auf Augenhöhe der Bürgerinnen und Bürger. Sie sollten immer das Korrektiv einer Gesellschaft sein, und der neuen KI-Welten. Die Prinzipien und Leitlinien der Redaktionen, primär ihre Redakteurinnen und Redakteure, sind die Basis für den konstruktiven Diskurs. Die bekannten Qualitätsmedien bieten Verlässlichkeit in einem dynamischen, undurchsichtigen Informationskosmos. Eine Demokratie braucht mehr als je zuvor Redaktionen, die die Welt auf den Prüfstand stellen, die reale Welt und die künstliche.
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