Sie wisse nicht, "ob die Information stimmt", man solle "selbst recherchieren", aber soviel sei klar: Es gebe nun "endlich etwas Greifbares bezüglich der Korruption im weltweiten Corona-Skandal". Mit dieser Behauptung beginnt ein rund fünfminütiges YouTube-Video, hochgeladen am 17. August, das bereits nach 24 Stunden mehr als eine halbe Million mal aufgerufen wurde.
Die Urheberin des Videos ist in der Szene der Corona-Relativierer bekannt. Sie veröffentlichte bereits zahlreiche Videos, die die Gefahr des neuartigen Coronavirus herunterspielen.
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In dem aktuellen Video über Belarus reiht sie zahllose unbelegte Behauptungen aneinander. Internationale Organisationen hätten mehrfach versucht, den Präsidenten Weißrusslands, Alexander Lukaschenko, zu bestechen. Die Behauptung ist eine neue Verschwörungserzählung rund um das Coronavirus und soll zeigen, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zentral gesteuert sind und Staaten von internationalen Organisationen bestochen werden.
Aus Behauptungen werden angebliche "Beweise"
Der Grund, weshalb sich internationale Organisationen bei einzelnen Staaten einen Lockdown "erkaufen" wollen sollten, wird nicht genannt. Unter den Kritikern der Corona-Maßnahmen spekulieren zahlreiche Personen über umfassende Verschwörungen: Nicht genauer benannte "Eliten" würden sich einen Lockdown wünschen, um die Wirtschaft umzubauen oder um die Weltbevölkerung zu unterdrücken, Impfungen zu erzwingen und dergleichen. Belege für diese Behauptungen gibt es keine. Auch deshalb werden angebliche Beweise aus der Republik Belarus, die wir in diesem Text widerlegen, als Nachweise angeführt.
Die Erzählung geht folgendermaßen: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) habe dem Präsidenten von Belarus, Alexander Lukaschenko, 92 Millionen Dollar in bar angeboten, um "zu handeln wie Italien", also weitreichende Ausgangsbeschränkungen zu erlassen und das öffentliche wie wirtschaftliche Leben herunterzufahren. Nachdem Lukaschenko diesen Bestechungsversuch abgelehnt habe, hätte der Internationale Währungsfond (IWF) das Angebot verzehnfacht und 900 Millionen Dollar für einen Lockdown geboten. Dieses Angebot habe der autoritäre Herrscher jedoch ebenfalls abgelehnt.
Überprüfbare Nachweise für die Behauptung liefert die Urheberin des Videos nicht. Vielmehr verweist sie auf einen italienischen Autor, den sie als "Investigativjournalisten" bezeichnet. Dieser habe aus Geheimdienstquellen erfahren, dass andere europäische Staaten vergleichbare Angebote erhalten hätten.
Dieser angebliche Investigativjournalist verbreitet auf seiner Homepage den Verschwörungsmythos vom "deep state" (zu Deutsch: "Staat im Staate" oder "Schattenregierung", eine weit verbreitete Verschwörungslegende) und weitere, nachweislich falsche Behauptungen. Dennoch ist er der Ursprung für mehrere Varianten der Verschwörungserzählung um Belarus und Lukaschenko. Mittlerweile finden sich zahlreiche Varianten davon auf der Nachrichtenplattform Telegram, auf YouTube, sowie auf diversen Blogs.
Beispielhafte Verschwörungstheorie
Das Video und der Aufbau der Behauptungen zeigen beispielhaft, wie Verschwörungstheorien funktionieren. Häufig haben Verschwörungstheorien einen Bezug zur Realität. Genau wie in diesem Fall: Die beiden Zahlen (92 Millionen und 900 Millionen Dollar) existieren im Zusammenhang mit Belarus tatsächlich. Auch standen internationale Organisationen in den letzten Monaten mit dem Land in Verhandlungen.
Jedoch verhandelte nicht die WHO, wie behauptet wird, sondern es verhandelten die Weltbank und der IWF mit Belarus. Auch ging es nicht darum, sich einen Lockdown "zu erkaufen" oder um Bestechung. Im Gegenteil, die belarussische Regierung wandte sich mit der Bitte um finanzielle Hilfe an die beiden Organisationen. Die Realität wird in der Verschwörungserzählung also umgedreht und in das eigene Weltbild eingefügt. Die Tatsache, dass Belarus Kredite bei IWF und Weltbank beantragte, wird nicht dabei erwähnt.
Belarus: Bitte um Kredite im März
Am 27. März wandte sich Belarus an den Internationalen Währungsfond mit der Bitte um einen Kredit in Höhe von 900 Millionen Dollar. (Quelle: Reuters)
Dieser Kredit sei ein Notkredit als Antwort auf die Corona-Krise, so der belarussische Finanzminister Maxim Yermalovich. (Quelle: Reuters)
Der IWF äußerte sich zu Beginn der Verhandlungen nicht über Details, bestätigte jedoch als Höhe des Kredits 900 Millionen Dollar.
Unabhängig von den Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfond erhielt Belarus am 22. Mai ein 90 Millionen-Euro-Hilfspaket (mutmaßlich der Bezug zu den im Video erwähnten 92 Mio Dollar) von der Weltbank. Das Geld solle eine "direkte Antwort auf das Coronavirus sein", so damals Alex Kremer, Sprecher der Weltbank. In einem weiteren Zitat betont der Sprecher der Weltbank, dass diese Hilfe vor allem in Verbindung mit Hygienemaßnahmen besonders effizient sein werde. Auch aus dieser Aussage wird die Verschwörungserzählung vom erkauften Lockdown konstruiert.
"Es [das 90 Millionen-Euro-Hilfpaket] wird die meisten Auswirkungen entfalten können, wenn es mit Maßnahmen wie Abstandhalten kombiniert wird; dazu gehören auch das Vermeiden großer Menschenansammlungen, die Möglichkeit, Anwesenheit am Arbeitsplatz oder in Bildungseinrichtungen zu reduzieren und nicht-notwendige Reisen zu vermindern. All das hilft Leben zu retten und lang anhaltende wirtschaftliche Auswirkungen abzuschwächen. Je früher diese Maßnahmen umgesetzt werden, desto besser das Ergebnis für die Unversehrtheit und das Auskommen der Menschen." Alex Kremer, Sprecher der Weltbank (Quelle)
Das Geld ist also kein Bestechungsversuch an Lukaschenko und wurde auch nicht in bar angeboten, geschweige denn überreicht.
Die Weltbank verleiht aufgrund der Corona-Pandemie aktuell Kredite in Höhe von 160 Milliarden Dollar an finanzschwache Länder auf der ganzen Welt, um die Auswirkungen der Pandemie "auf die Schwächsten der Gesellschaft" abzumildern. Der Staat Belarus erhielt seit dem Beitritt in die Weltbank 1992 insgesamt 1,9 Milliarden US-Dollar in Krediten.
Kredit des IWF nicht ausgezahlt
Der Kredit des Internationalen Währungsfonds in Höhe von 900 Millionen Dollar wurde im Gegensatz zu dem Kredit der Weltbank (90 Mio Euro) nicht ausgezahlt. Das bestätigt der IWF auf BR24-Anfrage und das geht ebenfalls aus einer Meldung der staatseigenen belarussischen Nachrichtenagentur BELTA hervor. Diese berichtet am 19. Juni, dass sich Präsident Lukaschenko im Kreis von Minister*innen und hohen Staatsbediensteten über den Stand der Verhandlungen informiert habe.
In der englischen Version der Pressemitteilung wird Lukaschenko mit den Worten zitiert: "We hear the demands, for example, to model our coronavirus response on that of Italy." Auf Deutsch: "Wir hören beispielsweise Forderungen, dass wir unsere Antwort auf das Coronavirus an der Italiens ausrichten sollen." Genaueres dazu geht aus der Pressemitteilung nicht hervor. (Quelle)
Der Internationale Währungsfond betont auf BR24-Anfrage, dass Belarus mit der Bitte um einen Kredit an den IWF herantrat. Eine Übereinkunft sei nicht erreicht worden, so eine Sprecherin, man beobachte die Lage jedoch weiter.
Über die Details der Verhandlungen will wollte sich der IWF auf BR24-Anfrage nicht äußern, verweist jedoch auf die Rahmenbedingungen des Kredites, um den sich Belarus beworben hatte. Dabei handelt es sich um das sogenannte "Rapid Financing Instrument" (RFI), also ein Instrument zur schnellen Finanzierung.
Es ist üblich, dass die Kredite des IWF mit Konditionen oder Selbstverpflichtungen der Kreditnehmer verbunden sind. Diese beschränken sich in der auf Transparenz in der Regierungsarbeit oder die Transformation der Wirtschaft hin zu mehr Klimaneutralität, nicht auf Eingriffe in politische Entscheidungen. Der IWF erklärt das auf seiner Homepage am Beispiel Nigerias (Text auf Englisch). Das Land erhielt im April 3,.4 Milliarden US-Dollar in Form eines RFI-Kredits, um mit die Auswirkungen der Corona-Pandemie abzufedern. Das Land muss den Kredit in den kommenden fünf Jahren abbezahlen.
Die genauen Details der Verhandlungen und ob zwischen Belarus und dem IWF konkrete Corona-Maßnahmen thematisiert wurden, sind nicht abschließend zu klären. Lukaschenkos Aussagen müssen als populistisch gewertet und im Kontext seiner bisherigen Corona-Strategie gelesen werden.
Klar jedoch ist, dass es sich bei den 900 Millionen Dollar, über die derzeit spekuliert wird, nicht um einen Bestechungsversuch handelte, sondern um einen von Belarus angefragten Kredit.
Corona-Situation in Belarus
In den Monaten April und Mai erreichte die Corona-Pandemie in Belarus ihren Höhepunkt. Erst seit Juni sinken die Zahlen der gemeldeten Neuinfektionen. An der Genauigkeit der Corona-Fallzahlen in Belarus gibt es seit Mai Zweifel.
Weltweit gilt Alexander Lukaschenko neben US-Präsident Donald Trump und dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro als eines jener Staatsoberhäupter, deren Antwort auf die Corona-Pandemie besonders zurückhaltend ausfiel.
So sagte Lukaschenko Anfang April bei einem Eishockeyspiel "Hier sind keine Viren!" und "Es ist besser, im Stehen zu sterben, als auf Knien zu leben." Die gesamte Zeit über gab es Kritik an Lukaschenko. Er erlaubte Großveranstaltungen. Strikte Ausgangsbeschränkungen lehnte er mit dem Verweis auf die wirtschaftlich angespannte Situation im Land ab. Er sagte, dass mehr Menschen an Arbeitslosigkeit und Hunger sterben würden als an dem neuartigen Coronavirus.
Fazit:
Aktuell wird über angebliche Bestechungsversuche internationaler Organisationen spekuliert. Sie sollen dem weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko mehrere hundert Millionen Dollar angeboten haben. Für diese derzeit kursierenden Aussagen liefern die Urheber keine Belege.
Weder Weltbank noch WHO haben Lukaschenko Bargeld angeboten. Auch der Internationale Währungsfond versuchte nicht, Lukaschenko zu bestechen oder einen Lockdown "zu erkaufen". Die Regierung Belarus’ wandte sich mit der Bitte um einen Kredit an IWF und Weltbank.
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