Der Tag, an dem Jelmer van Beek ein Teil der Internetgeschichte wird, beginnt wie ein ganz normaler Segeltag. „Ein perfekter Segeltag, sonnig, kaum Wellen“, erinnert sich der 28 Jahre alte Profisegler aus den Niederlanden. Es ist der 22. Juni 2023. Van Beek ist mit seiner Crew auf dem letzten Abschnitt eines Rennens, dem Ocean Race, und gerade unter Deck, als ihn einer seiner Kollegen nach oben ruft: Drei Orcas schwimmen direkt auf das Segelboot zu.
Was dann passiert, das hat van Beek mit einer GoPro festgehalten: Die Tiere, „riesig“, wie er sagt, schwimmen um das Boot herum, tauchen auf und ab. Und dann rammen sie das Boot.
Memes über Orcas: Schlägt die Natur zurück?
Was van Beek erlebt, das nennen Forscher eine „Interaktion“ zwischen Orcas und Segelbooten. Ein untypisches Verhalten einer Gruppe von Walen, die sich in der Straße von Gibraltar immer wieder Schiffen nähern und diese beschädigen – oder sogar zum Sinken bringen. Für die Segler und Seglerinnen eine furchteinflößende Erfahrung – und für das Internet perfektes Futter für Memes. Dort nämlich werden die Tiere zu Freiheitskämpfern stilisiert, die sich an den Menschen für all das rächen, was die Menschheit ihnen eben so antut: die Verschmutzung und Überfischung der Meere, den Unterwasserlärm und die Entführung junger Orcas in Aquarien.
Nun also, so das Internet, schlägt die Natur zurück. Und gerade die Superreichen, die Umwelt und Klima überproportional stark belasten, scheinen sich perfekt für dieses Narrativ zu eignen: Orcas tauchen als Kommentare unter Bildern von Jeff Bezos Yacht auf, als Sichel in einer Hammer-und-Sichel-Grafik. Andernorts werden Orca-Illustrationen mit dem Schriftzug „Eat the Rich“, oder gleich: „Sink the Rich“ versehen, und YouTuber verneigen sich vor den „Orca-Overlords“.
El Hotzo: Memes drücken eine Sehnsucht nach Solidarität aus
Warum dieses Narrativ so einschlagen konnte – dieser Frage geht der Podcast „Wild Wild Web – Geschichten aus dem Internet“ auf den Grund. Host Janne Knödler sprach dafür mit dem deutschen Comedy-Autor Sebastian „El Hotzo“ Hotz. Hotz meint, dass die Memes eine Sehnsucht nach Solidarität ausdrücken: „Zwischen allen, die unter den metaphorischen Yachtbesitzern dieser Welt leiden.“ Die Orcas stehen in diesem Narrativ nicht nur auf der Seite der Natur, sondern auf der Seite der Unterdrückten überall: der Arbeiter und Arbeiterinnen der Welt, der Diskriminierten, derer, die am meisten unter den Folgen des Klimawandels leiden.
Der Meeresbiologe Jörn Selling hat seine eigene Theorie: Die Interaktionen waren eine Reaktion der Tiere auf den Unterwasserlärm. Er forscht in Tarifa für die Stiftung „firmm“ zu den Meeressäugern. Und er hat beobachtet, dass die Interaktionen zu Ende des Corona-Lockdowns im Sommer 2020 begannen. Zwei Monate lang sei es deutlich ruhiger gewesen im Meer, sagt Selling. „Und als dann der Lockdown zu Ende war, ist glaube ich, jeder, der ein Boot hatte, an dem einen Tag rausgefahren.“ Für die Wale bedeutete das: Purer Stress. Also, so Selling, schauten sich die Tiere die Übeltäter genauer an. Beweisen, so Selling, lässt sich diese Theorie aber nicht – weil Wale nicht über ihre Intentionen kommunizieren.
Was Sebastian Hotz von diesen Erklärungen hält und wie Jelmer van Beeks Orca-Begegnung endete, ist im Podcast „Wild Wild Web“ zu hören.
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