Da war das Weißbierglas. Franz Beckenbauer, das darf man an dieser Stelle betonen, ist der einzige Mensch, der einen Lederball von einem vollen Weißbierglas aus ins untere Loch der Torwand des ZDF schoss. Gut, ein wenig Schaum ging auf dem Weg verloren, aber das bleibt lediglich eine Randnotiz. Beckenbauers Versuch aus dem Jahr 1994 ist bis heute einzigartig, er war ein Spätwerk weit nach seiner Spielerkarriere – trotzdem steht er sinnbildlich dafür.
Franz Anton Beckenbauer, das war ein Fußballspieler, den dieses Land der beinharten Verteidiger, unbarmherzigen Mittelstürmer und ergebnisorientierten Trainer vorher nicht kannte – und vielleicht auch nachher nicht mehr sehen sollte. Er wurde zu Deutschlands Fußballer des 20. Jahrhunderts gewählt. Einer, der mit seiner Spielfreude und den Außenristpässen plötzlich diese Tupfer Leichtigkeit in die Härten des Lebens brachte. Die Bundesrepublik war in seiner Schaffenszeit in den 1960er, 70er und 80er Jahren ja auch geprägt von den Unwägbarkeiten des Kalten Krieges.
- Die BR-Doku "Beckenbauer" ist seit 2. Januar 2024 in der ARD Mediathek zu sehen, am 8. Januar um 20.30 Uhr im Ersten und am 9. Januar ab 20.15 Uhr im BR Fernsehen.
- Ergänzend zur TV-Doku: der vierteilige Podcast "Beckenbauer - Der letzte Kaiser von Deutschland. Erzählt von Sebastian Bezzel
Ein Spielstil, gekennzeichnet von der Nonchalance des Kaisers
Seine Eleganz, sein Talent, seine Fähigkeiten am Ball sind ebenso wie der Torwand-Kunstschuss unerreicht, sie waren Franz Beckenbauer schlicht gegeben. So wie sein Instinkt, den Fußballer in all den Nachwuchsleistungszentren, die es in dieser Welt mittlerweile gibt, nie lernen können. Den hat man – oder man hat ihn nicht. "Er ist ein Genie gewesen, es gibt ganz wenige in der Kategorie. Das ist eine gottgegebene Geschichte", sagte der ehemalige Fußballer Dieter Hoeneß über Beckenbauer.
Geprägt war das von all der Nonchalance, die den "Kaiser" – wie man Beckenbauer schließlich nannte – auch abseits des Fußballfeldes zeitlebens kennzeichnete: "Man ist gegrätscht und man hat sich in den Dreck geschmissen – das war der damalige Fußball. Jetzt komme ich daher und verlasse das Spielfeld meistens mit einem weißen Trikot und die anderen waren voller Dreck", sagte er in einer BR-Dokumentation – und fügte an: "Warum soll ich einem Ball hinterherlaufen, den ich eh nicht mehr kriege?"
Sein Weggefährte Günter Netzer meinte dazu: "Das ist schön, dass er das selbst sagt. Während die anderen im Dreck rumgewühlt haben, ist er mit dem blütenweißen Trikot vom Feld gelaufen und hat gedacht: 'Macht ihr nur weiter so, ich habe meine eigene Interpretation der Aufgabe.'"
Im Video: BR-Dokumentation "Der Ball war mein Freund"
Franz Beckenbauer schwebte übers Fußballfeld
Diese Interpretation hatte mit dem Fußball und dem Spielbetrieb selbst zu tun: "Ich würde sagen: Der Ball war mein Freund", bilanzierte Beckenbauer in der BR-Doku, er streichelte das Spielgerät als Libero, als ewige Nummer fünf, als freier Mann auf dem Feld. Die Freiheiten nutzte er als Ballverteiler für spielgestalterische Geniestreiche – oder um sich durch all die Barrieren auf so einem Fußballfeld mit insgesamt elf Gegenspielern zu manövrieren, von ein paar dieser vermaledeiten Eigentore mal abgesehen.
Günter Netzer sprintete aus der "Tiefe des Raumes" in die Spitze, Franz Beckenbauer schwebte schier übers Feld – die Augen - ganz General - immer nach vorne gerichtet. "Er hat bestimmt, was der Ball macht und nicht umgekehrt", sagte Uli Hoeneß einmal. "Wenn er mit dem Ball durchs Mittelfeld getrabt ist, dann hat er schon den Kopf oben gehabt und die meisten mussten eben den Kopf unten haben, weil sie Angst hatten, dass der Ball wegspringt."
Im Video: Franz Beckenbauer im Wembley-Stadion
Bewundert selbst vom Brasilianer Pelé
Allein deshalb spielte Beckenbauer mit einer in der Bundesrepublik ungekannten Anmut, einer Grazie, die die Bundesliga ab ihrem dritten Bestehungsjahr bereicherte. Schon damals merkte ein Reporter an: "Die Kritiker und Fußball-Weisen sind einer Meinung: dass Beckenbauer das größte Talent des deutschen Fußballs seit Jahren sei. Seine Balltechnik und Spielübersicht sind unübertroffen." Nach sechs Bundesliga-Spielen wurde er erstmals in die Nationalmannschaft berufen.
Beckenbauers Ballgefühl war später auch in den USA gefragt: "Als ich hörte, dass dieser wunderbare Spieler zu uns kommen würde, dachte ich sofort: Großartig – dann wird für mich auf dem Platz alles leichter", sagte Beckenbauers New Yorker Mitspieler Pelé, der im Jahr 2022 verstarb, ein anderer Meister seines Fachs.
Im Video: Franz Beckenbauer in New York
Leichtigkeit gepaart mit Gewinner-Mentalität
Die beiden gewannen gemeinsam drei Meistertitel in den USA. Eines darf man nicht übersehen: Beckenbauer verband sein Talent, diese Leichtigkeit, stets mit der "Mia-san-mia"-Gewinner-Mentalität. Alle Pokale dieser Welt errang Beckenbauer, er wurde als prägender Spieler Welt- und Europameister – und dreimal in Serie Europapokalsieger der Landesmeister (heute Champions League).
Gelernt hatte er dafür an einer Hauswand in Giesing, weil die "der ehrlichste Partner ist. Spielst du den Ball unsauber dagegen, kommt er auch unsauber zurück. Spielst du ihn sauber dagegen, kommt er sauber zurück. Also wenn du sauber hinspielst, brauchst nicht so viel laufen, das habe ich damals schon kapiert."
Mit der Hilfe des unbarmherzigen Mittelstürmers Müller und "des Kaisers Putzer" Schwarzenbeck
Ohne Zweifel, am Sonntag endete ein einzigartiges deutsches Fußballerleben, dessen Erbe aber noch die nächsten Jahrzehnte im öffentlichen Gedächtnis bleiben wird. Beckenbauer selbst vergaß übrigens nicht, dass es für all die großen Erfolge nicht nur seiner spielerischen Leichtigkeit, sondern auch einem unbarmherzigen Mittelstürmer bedurfte: "Ohne die Tore von Gerd Müller würden wir uns heute immer noch in dem Holzhäusl an der Säbener Straße umziehen", hat er einmal gesagt.
Und auch ein beinharter Verteidiger war stets nur unweit von ihm auf dem Feld anzutreffen: "Katsche (Hans-Georg) Schwarzenbeck hat die Drecksarbeit für ihn gemacht. Er als der Kaiser ist dann eingeflogen und hat geglänzt mit seinen großartigen technischen Fähigkeiten, ist dann nach vorne gelaufen und hat damit Erfolg gehabt", sagte Günter Netzer. "Des Kaisers Putzer" wurde Schwarzenbeck genannt. Er war der Adjutant des vielleicht sogar begnadetsten deutschen Fußballers aller Zeiten: Franz Anton Beckenbauer.
Am vergangenen Sonntag ist Franz Beckenbauer im Alter von 78 Jahren verstorben.
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