Über mindestens drei Jahre stand Joshua Kimmich sprichwörtlich im Mittelpunkt des Spiels. Er war der klare Sechser, der Ballverteiler und das Herz im Nationalteam wie auch beim FC Bayern München. Oder zumindest sollte und wollte er das sein. Nach jeder schmerzlichen Niederlage im weißen-schwarzen oder im roten Trikot rückte Kimmich in die Kritik. Nun ist der ewige Dirigent Toni Kroos zurück in der DFB-Schaltzentrale, Bundestrainer Julian Nagelsmann setzt voll und ganz auf den 34-Jährigen.
Kroos statt Kimmich: Rechtsverteidiger wider Willen
Kimmich rutschte im Zuge dessen wieder an den Rand des Spielfeldes. Dahin wo die Aufmerksamkeit und der Einfluss auf das Spiel naturgemäß etwas geringer ist. Dass er nun wieder auf seine alten Rechtsverteidiger-Position, auf der er sich einst zur Weltklasse aufschwang, bespielen muss, wird dem einflusssüchtigen und ehrgeizigen Kimmich nicht schmecken. Doch seine "Verbannung" findet bei genauerem Betrachten nur auf dem Papier statt.
Robertson: Von Klopp zur Weltklasse geschliffen
Schon am Freitag um 21 Uhr wird es ganz besonders auf die Leistung von Kimmich ankommen, wenn Deutschland die EURO 2024 in München eröffnet. Denn der Gegner lautet Schottland und in Kimmichs speziellen Fall heißt er Andrew Henry Robertson. Der 30-Jährige vom FC Liverpool, von allen nur "Andy" genannt, ist das Aushängeschild der Schottenelf. Er ist Rekord-Kapitän und der mit Abstand leistungsstärkste "Braveheart" des vergangenen Jahrzehnts.
"Andy ist ein fantastischer Typ, er ist sehr schlau und nett. Er ist ein Anführer", fasste es sein Mentor Jürgen Klopp zusammen. Der scheidende Liverpool-Trainer hat aus Robertson einen der konstantesten Außenverteidiger der Welt gemacht. Die gegenseitige Wertschätzung der Beiden ist enorm.
"Es war eine besondere Reise mit ihm. Er war immer für mich da. Er hat mich als Spieler und Mensch besser gemacht. Ich werde ihm immer dankbar sein." Andrew Robertson über Jürgen Klopp
Heavy-Metal-Fußball gegen DFB-Team
Robertsons Spiel ist ganz und gar auf Jürgen Klopps etablierten "Heavy-Metal-Fußball" ausgerichtet. Geradlinig, schnörkellos und unangenehm für den Gegner. Es wird ein ungemütlicher Freitagabend für Joshua Kimmich, wenn Schottland sein defensives und auf Konter ausgerichtetes Spiel im 5-4-1-System aufziehen kann. Angegriffen wird dann mit Vorliebe über den linken Ein-Mann-Flügel Andy Robertson.
Exemplarisch dafür stehen die ersten 60 Minuten beim letzten Test der Schotten gegen Finnland: Bei der 1:0-Führung brach Robertson nach Steilpass von Arsenals Kieran Tierny bis zur Grundlinie durch und erzwang ein Eigentor. Nur vier Minuten später bediente Robertson Mitspieler Lawrence Shankland mit einer maßgeschneiderten Flanke zum 2:0. Nach seiner Auswechslung kassierte sein Team noch zwei Gegentore, das Spiel endete 2:2.
Nur keine Konter: Kimmich und Co. sind gewarnt
Die Tore gegen Finnland sind genau die Situationen, die es für Kimmich und die deutsche Mannschaft zu verhindern gilt. Als mahnendes Beispiel dient zudem der 28. März 2023, als Schottland mit genau diesen Mitteln Spanien verdient mit 2:0 besiegte. Robertson hatte auch hier das 1:0 aufgelegt, als er Scott McTominay per Flachpass im Rückraum fand. Gerade diese Kombination mit dem Mittelfeldspieler von Manchester United versprüht große Gefahr, weil sein Nachrücken in den Strafraum kaum zu verteidigen ist. Mit sieben Tore war McTominay maßgeblich an der EM-Qualifikation beteiligt und ist neben Robertson der zweite "Hero" im schottischen Spiel.
Der einfache Ansatz der Schotten könnte sich gerade gegen Deutschland auszahlen, das haben die wackligen DFB-Testspiele gegen die Ukraine und Griechenland verdeutlicht. Die Elf von Julian Nagelsmann ist in Spielen gegen vermeintliche "kleine Gegner" um Spielkontrolle bemüht, auch Joshua Kimmich ist dafür ein zentraler Baustein. Während Toni Kroos sich gerne in den linken Halbraum zwischen Innen- und Außenverteidiger fallen lässt, übernimmt Kimmich den Konterpart auf der anderen Seite.
Robertsons Stärken sind Kimmichs Schwächen
Je nach offensiver Besetzung rückt der Bayern-Star dafür mit ins Zentrum ein, um dort eine Überzahl herzustellen, oder er unterstützt den rechten Flügelspieler bei Vorstößen über die Außenbahn. In beiden Fällen entsteht hinter Kimmich logischerweise ein Loch. Das ist zwar von Nagelsmann gewollt und soll durch dominantes Ballbesitzspiel in Verbindung mit konsequentem Gegenpressing wettgemacht werden. Doch beide Ansätze sind nicht ausgereift genug, um einen tiefstehenden Gegner gefahrlos über 90 Minuten zu bespielen.
Schottland wird eher in der Lage sein, technische Ungereimtheiten und die riskante Restverteidigung im deutschen Team auszunutzen, als es die Griechen oder Ukrainer waren. Denn ihr Umschaltspiel haben die Schotten dank Leitwolf Robertson in den vergangenen Jahren perfektioniert. Gerade hier liegt die Stärke des 30-Jährigen, wenn er mit Tempo in die Tiefe des Raumes sprinten kann, um seine Mitspieler im Zentrum zu bedienen. Seine Konstanz und Verlässlichkeit sucht in Europa seinesgleichen.
Die zwei Gesichter des Joshua Kimmich
Und genau hier liegen auch Kimmichs größte Schwächen: Wenn ein Gegenspieler mit Geschwindigkeit im Eins-gegen-Eins auf Kimmich zukommt oder wenn er nach einem Ballverlust wieder hinter an den Ball kommen muss, machen sich seine physischen Eigenschaften bemerkbar. Er ist weder der schnellste, noch körperlich besonders präsent im Zweikampf. Außerdem neigt Kimmich dazu, getrieben durch seinen eigenen Anspruch, seine Position zugunsten der Kreierung von Torchancen zu verlassen.
Die Ambivalenz seiner Rechtsverteidiger-Rolle offenbarte sich vor allem in der abgelaufenen Champions-League-Saison sehr deutlich. Während Kimmich gegen den FC Arsenal seine Seite dicht behielt und dann auch noch mit einem beherzten Kopfball für das Weiterkommen sorgte, hatte er im Halbfinal-Rückspiel gegen Real Madrid arge Probleme mit Vinícius Júnior. Der Brasilianer überwand Kimmich per Dribbling im Laufe des Spiels ein halbes Dutzend Mal.
Schottland als Stolperstein oder gutes Omen
Da Andy Robertson ein anderer Spielertyp ist und gegen Deutschland vor allem am eigenen Strafraum beschäftigt sein wird, ist ein derartiges Szenario am Freitagabend nicht zu befürchten. Überhaupt gibt es wenige Vergleichswerte zwischen beiden Spielern. Nur ein einziges Mal trafen die Beiden aufeinander: Im Hinspiel des Champions-League-Achtelfinals im Jahr 2019 zwischen Liverpool und Bayern neutralisierten sich die Außenbahnspieler, das Spiel endete torlos.
Ein solcher Ausgang für das EM-Eröffnungsspiel wäre für Robertson und Co. ein Riesenerfolg. Schon bei der EM 2020 konnten die Schotten Gastgeber England im historischen "Battle of Britain" ein 0:0 abtrotzen. Immerhin: Die Three Lions schafften es im eigenen Land anschließend bis ins EM-Finale ehe sie im Elfmeterschießen gegen Italien verloren.
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