Im Tarifkonflikt um die Bezahlung im öffentlichen Dienst hat die Gewerkschaft Verdi ihre Warnstreiks im Gesundheitswesen ausgeweitet. Am Dienstag waren die Belegschaften des Herzzentrums in München sowie fünf bayerischer Universitätskliniken aufgerufen, die Arbeit niederzulegen. Nach Angaben eines Verdi-Sprechers beteiligten sich rund 1.700 Menschen in München, Würzburg, Erlangen und Regensburg an der Aktion.
Die Mitarbeitenden kämpfen um mehr Anerkennung und um eine bessere Bezahlung. Sie fordern unter anderem fünf Prozent mehr Lohn. "Zuerst klatschen die Leute in die Hände und jetzt fühlt es sich an wie eine Ohrfeige, dass wir weniger Gehalt, keine Gehaltserhöhungen bekommen", so die Kritik einer Streikteilnehmerin.
Immer mehr junge Menschen auf der Intensivstation
Die Situation in den Kliniken verschärft sich derzeit massiv. So sind etwa im Klinikum Großhadern auf der Intensivstation ITS4 fast alle Betten inzwischen mit Covid-19-Patienten belegt. Oberärztin Sandra Frank und ihr Team behandeln immer mehr junge Menschen. So wie eine 29-Jährige, ungeimpft, wie 90 Prozent der Patienten hier. Vor zwei Tagen wurde die schwer an Covid-19 erkrankte Schwangere eingeliefert – ihr Kind musste geholt werden. Jetzt kämpfen Mutter und Neugeborenes um ihr Leben.
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Sorge vor Triage an Kliniken
Benjamin Priester, Intensivpfleger am Klinikum Großhadern, fürchtet, dass es in den nächsten Wochen noch schlimmer kommen könnte. Er rechnet mit einem weiteren dramatischen Anstieg an Intensivpatienten. "Da hab' ich Angst davor, dass wir wirklich zur Triage kommen und dass es wirklich so sein wird, dass hier Krankenwagen reihenweise stehen, und wir die Patienten einfach nicht aufnehmen können, weil es keinen Platz gibt und auch kein Personal, das sie betreuen kann und dass man dann ausselektieren muss, welche Patienten werden noch behandelt und welche werden einfach nur palliativ versorgt, also sind zum Sterben da."
Schon jetzt müsse jeden Morgen entschieden werden, ob überhaupt noch Operationen durchgeführt werden können oder ob sie verschoben werden müssen. Denn täglich kommen neue Covid-Patienten. "Dann müssen wir natürlich hart abwägen, kann dieser Patient noch ein, zwei Tage auf seine Operation warten und können wir dafür dann den Covid-Patienten aufnehmen," sagt Benjamin Priester.
Jede dritte Pflegekraft erwägt Berufswechsel
Seit bald zwei Jahren arbeiten Ärzte und Pflegekräfte unter diesen extremen Arbeitsbedingungen. Viele sind erschöpft und müde. Von rund 1,8 Millionen Menschen, die in Deutschland in Pflegeberufen arbeiten, überlegt mittlerweile etwa ein Drittel, den Beruf nach der Pandemie aufzugeben.
Unterstützung durch den Pflegepool
Kurzfristig Hilfe bringen soll eine digitale Plattform: der Pflegepool Bayern. Freiwillige können hier im Katastrophenfall ihre Unterstützung anbieten und so das Gesundheitssystem entlasten.
Etwa 3.900 Menschen haben sich bisher registriert. Viel zu wenige, befürchtet Georg Sigl-Lehner, der das Portal aufgebaut hat. Bereits jetzt sind 13 Landkreise in einer akuten Notsituation. "Wir brauchen noch mehr, es brennt in manchen Landkreisen bereits lichterloh, und wenn die Feuerwehrleute vor Ort nicht mehr löschen können, dann braucht man sie von woanders", sagt Georg Sigl-Lehner von der Vereinigung der Pflegenden in Bayern. Doch wie viel bringt ein solcher Pflegepool, wenn die Intensivmedizin zu kollabieren droht?
"Die Menschen in der Pflege leisten tatsächlich Übermenschliches jetzt. Sie sind aber am Limit. Und wir werden auch auf die Schnelle nicht so viel Personal wahrscheinlich bekommen, wie wir uns wünschen würden. Der Pflegepool kann ein Baustein sein. Aber wir bräuchten natürlich noch mehr." Klaus Holetschek, Bayerischer Gesundheitsminister
In der Pflegeschule in Freising absolvieren jährlich 22 Krankenpflegeschüler und -schülerinnen ihr Examen. Eine von ihnen ist die 19-jährige Lioba Biswas. Sie hat sich bewusst für diesen Beruf entschieden, obwohl ihr viele abgeraten haben. Weil überall Pflegekräfte fehlen, müssen Auszubildende nun oft schon früh Verantwortung übernehmen. Viele überfordert das. Von den deutschlandweit rund 150.000 Auszubildenden in der Pflege brechen fast 30 Prozent vorzeitig ab.
Pflegeschülerin Biswas will durchhalten, doch sie blickt mit gemischten Gefühlen auf die kommenden Wochen. Anders als geplant, muss sie kurzfristig auf einer Intensivstation aushelfen. "Es wird teilweise hart wahrscheinlich, wenn man Leute begleitet beim Sterben", sagt Biswas.
Der Frust unter den Pflegekräften wächst
Auf der Intensivstation im Klinikum Großhadern muss Intensivpfleger Benjamin Priester immer häufiger Dienste tauschen, weil Kollegen und Kolleginnen krank werden. Noch hat auf seiner Station niemand gekündigt, doch der Frust wächst, wie er berichtet: "Man sieht das, dass es schon Kollegen gibt, die sich da gut überlegen: 'Bleibe ich in diesem Beruf?', unter dieser maximalen Belastung, und wenn man dann hört, dass Politiker sagen, dass es keine Überlastung von Pflegekräften gibt, und dass Tarifrunden einfach abgesagt werden ohne Verhandlungen, das fördert natürlich nicht grad das Verbleiben im Beruf." Die besondere Leistung, die am Patienten erbracht werde, werde "einfach nicht wertgeschätzt", sagt Priester.
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