Wenn Arbeit nicht einfach nur ein wichtiger Teil des Lebens ist, sondern etwas, das das ganze Leben prägt und zwar auf zwanghafte Weise, dann sprechen Wissenschaftler von Arbeitssucht. Dass es einen krankhaften Umgang mit Arbeit gibt, ebenso wie es einen krankhaften Umgang mit Alkohol oder mit Glücksspiel, das wird unter Fachleuten inzwischen kaum bestritten.
"Anonyme Arbeitssüchtige" treffen sich in 16 deutschen Städten
Ein Beispiel ist Stefan (Name von der Redaktion geändert). Er nimmt an regelmäßigen Treffen der Selbsthilfegruppe "Anonyme Arbeitssüchtige" teil. Nach dem Vorbild der Anonymen Alkoholiker sind die Anonymen Arbeitssüchtigen mittlerweile in 16 deutschen Städten organisiert. Stefan erzählt:
"Es ist so ein Gehetztsein, so ein innerer Druck beim Arbeiten. Man kann sich auch nicht abgrenzen, wenn man in den Feierabend geht. Das Arbeitsthema kreist ständig im Geist irgendwo. Und dann denkt man immer an diese To-Do-Listen, die Aufgaben, die nicht erledigt sind, die noch gemacht werden müssen, und versucht, möglichst effizient viel zu tun."
"Arbeitssucht ist Sucht nach Glückshormonen – wie bei Kokain"
Stefan ist überzeugt, dass seine Arbeitssucht ganz Ähnliches in seinem Hirn auslöst, wie es auch Kokain oder Alkohol würden. So werden etwa Endorphine freigesetzt, sagt er, die sogenannten Glückshormone. "Wenn ich unter Druck auf irgendwas mit einem festen Ende hingearbeitet habe und es dann am Stichtag fertig ist - dann löst das natürlich auch wahnsinnige Gefühle, Glücksgefühle aus."
Nach dem Glücksgefühl kommt der Fall ins Loch
Zufrieden zu sein, wenn eine Arbeit fertig und gut gelungen ist, das ist eigentlich ganz normal. Bei Stefan aber wurde daraus eine Sucht.
"Ich falle oft danach, also wenn ich diese wahnsinnigen Glücksgefühle hatte, in ein wahnsinniges Loch. Das ist dann der Entzug sozusagen von dem Druck, von der Anspannung, die ausgelöst wird, durch die Tätigkeit. Das fehlt dann. Also giere ich nach dem nächsten Kick."
Vor allem Selbständige und Manager sind arbeitssüchtig
In der wissenschaftlichen Forschung zur Arbeitssucht gibt es ein Haupt-Kriterium dafür, ob jemand als arbeitssüchtig gilt: Dass es etwas Zwanghaftes hat, wie er oder sie arbeitet. Auch mit der Arbeit nicht fertig zu werden, gehört dazu. Nach einer aktuellen Befragung, bei der das Bundesinstitut für Berufsbildung und die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung zusammengearbeitet haben, können knapp zehn Prozent der Deutschen als arbeitssüchtig gelten.
Arbeitssucht ist demnach in allen Bevölkerungsschichten zu finden, auch zwischen Männern und Frauen ist sie in etwa gleich verteilt. Vor allem in zwei Gruppen tritt Arbeitssucht überdurchschnittlich oft auf: bei Selbständigen und Personen mit Führungsverantwortung. Hier arbeiten 13,9 bzw. 12,4 Prozent suchthaft, erklärt die Studien-Autorin Beatrice van Berk.
- Zum Artikel: Zehn Prozent aller Deutschen sind arbeitssüchtig
Finanzielle Unsicherheit treibt manche Selbständige in Arbeitssucht
Dass Arbeitssucht bei Managern etwas weiter verbreitet ist als bei Beschäftigten ohne Führungsverantwortung, sei naheliegend, sagt van Berk. Und bei Selbständigen spiele natürlich die finanzielle Unsicherheit eine große Rolle. "Da kann man dann auch verstehen, warum die nicht aufhören zu arbeiten, weil da einfach viel mehr noch davon abhängt als bei Angestellten", so die Expertin.
Betroffener: "Führerschein weg, Beziehung kaputt"
Stefan von den Anonymen Arbeitssüchtigen hat früher ebenfalls als Selbständiger sein Geld verdient. Dass er Hilfe bei einer Selbsthilfegruppe suchte, hat auch damit zu tun, dass er irgendwann feststellte: So wie die Sucht nach Alkohol oder Kokain einen Lebensentwurf gefährden kann, so kann auch Arbeitssucht ein Leben ruinieren.
Stefan erzählt vom Zeitdruck. Wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen hat er bereits zeitweilig den Führerschein verloren. Und dann sind da die Beziehungsprobleme, "weil ich ja nicht ansprechbar bin und ständig an die Arbeit denke. Und wenn ich nach Hause komme, bin ich total platt, falle aufs Sofa".
Expertin: Sich Grenzen setzen und die auch einhalten
Stefan ist zweimal geschieden. Inzwischen aber gelinge es ihm besser, eine stabile Beziehung zu führen, sagt er. Um sein Leben in den Griff zu bekommen, hat er sich eine feste Stelle als Angestellter in der Metallbranche gesucht, wo er eine Wochenarbeitszeit von 35 Stunden hat und sechs Wochen Urlaub im Jahr.
Die Sozialforscherin Beatrice van Berk stellt dazu allerdings fest: Um Arbeitssucht vorzubeugen, genügt es nicht, dass Vorschriften zur Arbeitszeit und zum Urlaub existieren. Sie müssen auch von den Betroffenen eingehalten werden.
- Zum Artikel: Wenn Gott hilft, ein Leben zu ändern
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