Es ist eine erschreckende Zahl: Jedes zweite Unternehmen in Bayern kann eine oder mehrere seiner Stellen nicht besetzen – und zwar dauerhaft. Das bedeutet nicht nur, dass Aufträge nicht angenommen werden können. Sondern auch, dass diejenigen, die in den Betrieben bleiben, mehr Arbeitslast stemmen. Laut einer aktuellen Studie der HDI Versicherung geben bereits zwei Drittel aller Beschäftigten im Freistaat an, dass bei ihnen im Unternehmen ein Fachkräftemangel existiert – weshalb sie häufig mehr Leistungsdruck verspüren.
Berater: Unternehmen müssen aktiv werden
Überforderung gibt es also auf allen Seiten und eine wirkliche Lösung ist nicht in Sicht. Was fängt man an mit so einer Situation? Es gebe im Grunde zwei Möglichkeiten, sagt der Münchner Unternehmensberater Jörg Schleburg: "Entweder man macht äußere Faktoren dafür verantwortlich", schimpft also auf die junge Generation oder die Politik. "Oder man schaut im eigenen Unternehmen danach, wie man sich besser aufstellt, um die Mitarbeitenden zu mehr Produktivität zu motivieren."
Schleburg berät mit seiner eigenen Agentur Unternehmen aller Branchen und Größen, damit sie ihre Arbeitskultur verbessern und sich damit auch nach außen hin positionieren können. 'Employer Branding' nennt sich das. Schleburgs Erfahrung nach ist der größte Fehler, den Unternehmen machen, an alten Strukturen festzuhalten, nur weil sie schon so lange funktioniert haben. "Die Forderungen, die junge Mitarbeitende heute stellen, können wir auch als Gewinn verstehen", sagt er. Über die vermeintlich typischen Einstellungen der Generation Z spricht er ungern; stattdessen argumentiert er in einem größeren Zusammenhang: "Was die jungen Menschen fordern, das hätte ich mich früher nie getraut. Aber es sind einfach deutlich mehr Stellen zu besetzen, als wir Fachkräfte haben. Da ist verständlich, dass diejenigen, die da sind, auch Forderungen stellen."
Häufigster Kündigungsgrund: Mangelnde Wertschätzung
Untersuchungen zeigen immer wieder: Der häufigste Kündigungsgrund in einem Unternehmen ist mangelnde Wertschätzung. Deshalb rät Jörg Schleburg dazu, die Bedürfnisse ernst zu nehmen und als Unternehmen ein paar entscheidende Fragen zu stellen: Ist allen Mitarbeitenden das unternehmerische Ziel klar? Gibt es blinde Flecken, deretwegen die Arbeit mühsam wird? Stimmen das Gehalt, die Fehlerkultur, die Transparenz mit den eigenen Prinzipien überein? Und vor allem: Gibt es im Betrieb genügend Austausch?
Diesen Kommunikationsbedarf spüren viele Unternehmerinnen und Unternehmer. Um die Rahmenbedingungen für einen Austausch zu schaffen, greifen manche zu sogenannten Incentives. Der Unternehmensberater Jörg Schleburg, der in München seine eigene Agentur gegründet hat, zählt auf: "Das Jobrad, die Smoothies, der Obstkorb, das gemeinsame Joggen." All das macht sich gut auf den Websites und in den Stellenanzeigen. Aber sie dürfen auch nur ein erster Schritt sein, warnt der Experte: "Ich spreche da gerne vom Schichtkuchen-Prinzip. Das sind alles Schichten, die aufeinandergelegt werden. Aber der eigentliche Teig, der Kern, das Grundprinzip, bleibt viel zu oft unverändert."
Das habe häufig zur Folge, dass Mitarbeitende in ein Unternehmen kommen, weil sie sich von den Versprechungen angelockt fühlen. "Wenn sie sich aber durchgearbeitet haben durch die Schichten und dann entdecken, dass ihnen die Grundsubstanz viel zu staubig und trocken ist, sind sie schnell wieder weg." Deshalb sei es wichtig, an den Kern des Betriebsklimas zu gehen und die Anforderungen aufzugreifen: "Mitarbeitende wollen nicht gehalten oder gebunden, sondern inspiriert und beflügelt werden", lautet Schleburgs Motto.
IT-Firma: "Wir entlasten mit KI"
Wenn dieser Reflexionsprozess einmal angestoßen wurde, dann ergeben sich manche Verbesserungen fast von selbst. Das kann Eva Vesterling aus der Praxis berichten. Sie leitet gemeinsam mit ihrem Mann in München eine Personalvermittlung für IT-Fachkräfte - oft hochspezialisierte Berufstätige, die sehr klare Vorstellungen von ihren Arbeitsbedingungen haben. Deshalb brauchten die Vesterlings ein paar Ideen: Sie haben einige Prozesse ausgelagert, berichtet Vesterling. Allerdings nicht an eine andere Firma, sondern an Künstliche Intelligenz. "Inzwischen konnten wir etwa 20 Prozent der sich wiederholenden Tätigkeiten automatisieren. Das ermöglicht unseren Mitarbeitenden mehr Zeit für kreative Arbeit."
Ziel muss die persönliche Weiterentwicklung sein
Auch die Arbeitszeitmodelle haben sie bei Vesterling an die modernen Bedingungen angepasst. Es gibt beispielsweise Führungspositionen in Teilzeit, um auch das Potential junger Eltern auszuschöpfen. Außerdem werden für bestimmte Aufgaben gezielt ältere Menschen, Menschen aus dem Ausland oder Menschen mit sehr speziellen Fähigkeiten gesucht. Und seit einiger Zeit haben sie bei Vesterling auch einen Bürohund - der kam mit einem der Mitarbeiter dazu. Beim Gassigehen sind schon einige gute Ideen gekommen. All das tue man aber nicht nur, um irgendwie die offenen Stellen zu besetzen. Sondern auch, um "enkelfähig zu bleiben", wie Eva Vesterling erklärt.
Der Unternehmensberater Jörg Schleburg findet solche Ansätze wertvoll. Seiner Erfahrung nach ist "persönliche Weiterentwicklung" genau das, "was den meisten Mitarbeitern heutzutage wahnsinnig wichtig ist; gerade der jungen Generation - genauso wie Flexibilität, Transparenz und sehr viele Möglichkeiten, sich zu entwickeln und Karriere zu machen".
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