Frust und Unzufriedenheit im Mittelstand erleben nach Jahren der Krisen derzeit einen neuen Höhepunkt: Laut Geschäftsklimaindex zur Beurteilung der mittelständischen Wirtschaftslage ist es derzeit so schlecht um ihn bestellt wie seit der Weltfinanzkrise vor 15 Jahren nicht mehr.
"Wir stellen den Mittelstand vor substanzielle Herausforderungen"
Tatsächlich leiden viele kleine und mittlere Unternehmen noch an den Folgen aus der Corona- und Energiekrise. Gleichzeitig fühlen sie sich von der Politik eingeschränkt: zu viel Bürokratie und Überregulierung – gerade für kleinere Unternehmen mit wenig Personal eine Herausforderung.
Im BR24-Interview für "Possoch klärt" (Video oben, Link unten) erklärt die Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat für Wirtschaft und damit eine der fünf Wirtschaftsweisen in Deutschland, mit welchen Problemen der Mittelstand tatsächlich zu tun hat, in welcher Verantwortung die Politik ist und weshalb ein starker Mittelstand mit Wachstumsperspektive eine wichtige Rolle für die Gesellschaft bedeutet.
Grimm: Stellen Mittelstand vor substanzielle Herausforderungen
BR24: Zerstören wir gerade den Mittelstand in Deutschland?
Veronika Grimm: Wir zerstören den Mittelstand nicht, aber wir stellen den Mittelstand vor substanzielle Herausforderungen. Je kleiner ein Unternehmen ist, desto mehr hat das Unternehmen natürlich Schwierigkeiten, den ganzen Vorgaben zu folgen und tatsächlich auch diese Belastung aktuell auszuhalten.
BR24: Was belastet die Unternehmen des Mittelstands denn konkret?
Grimm: Der Mittelstand ist vielen Herausforderungen ausgesetzt. Wir haben zwei Krisen hinter uns, in denen der Mittelstand sich substanziell bewegen musste, sich schnell umstellen musste, zum Beispiel in der Corona-Krise, die Digitalisierung, Homeoffice, in der Energiekrise die höheren Energiekosten, die sicherlich vielen zu schaffen gemacht haben.
Und jetzt aktuell haben wir viele Herausforderungen im Zuge der Transformation, die auch neue Pflichten beinhalten, und zwar zum Beispiel im Rahmen des Lieferkettengesetzes, zum Beispiel im Rahmen von Nachhaltigkeitsbemühungen. Da ist der Mittelstand schon sehr gefordert und muss natürlich seine Geschäftsmodelle umstellen. Nun ist es so, dass der Mittelstand sehr heterogen ist, es machen ja viele Unternehmen unterschiedliche Dinge. Für viele ist diese Umstellung, gerade wenn man energieintensiv produziert oder zum Beispiel fossile Energieträger braucht für die Produktion oder als Grundstoff, dann mit großen Herausforderungen verbunden.
Nach mehreren Krisenjahren: Geopolitische Lage hat sich verändert
BR24: All diese Herausforderungen hat ja nicht einzig der Mittelstand. Was ist das Besondere an der Problemlage des Mittelstands?
Grimm: Die wirtschaftliche Lage hat sich geopolitisch geändert: Das Geschäftsumfeld ist nicht mehr das gleiche, wir sind in Zeiten von Transformation und zunehmender geopolitischer Unsicherheit. Das macht das Geschäft unsicher, gerade für Mittelständler und gerade auch für Mittelständler, die stark international aufgestellt sind.
Gleichzeitig haben wir den Fachkräftemangel und das ist natürlich auch ein signifikantes Problem. Wir haben einerseits den Fachkräftemangel, aber wir haben auch eine zunehmende geringere Anzahl an Arbeitsstunden pro Erwerbstätigen. Also es gibt den demografischen Wandel, dass die Älteren, die Babyboomer-Generation, jetzt in den Ruhestand gehen. Das wird das Arbeitsvolumen reduzieren, einfach dadurch, dass weniger Personen zur Verfügung stehen.
Gleichzeitig wollen junge Menschen weniger Stunden arbeiten, also die Wunscharbeitszeiten bei Umfragen ist 32,5 Stunden pro Woche. Und sie wollen auch seltener tatsächlich aufsteigen und Führungsaufgaben übernehmen, weil die Work-Life-Balance eben als wichtiger angesehen wird. Und das stellt natürlich Unternehmen vor große Herausforderungen.
Wirtschaftlicher Erfolg des Mittelstands stabilisiert Gesellschaft
BR24: Geht es gerade denn überhaupt um das wirtschaftliche Wachsen – oder kämpfen wir derzeit um einen bestmöglichen Erhalt des Status Quo, auch in Anbetracht des demografischen Wandels?
Grimm: Wir machen uns noch nicht genug Vorstellung davon, was es bedeutet, kein Wachstum zu realisieren. Das bedeutet nämlich auch, dass wir keinen Zuwachs bei den Steuereinnahmen haben und dass wir auch gerade in der Politik deutlich härtere Verteilungskämpfe um die öffentlichen Ausgaben sehen werden. Das heißt, dass man, wenn man etwas Zusätzliches politisch machen will, dass man jemand anderem etwas wegnehmen muss. Und das ist eine Situation, in der wir bisher nicht waren.
Gerade in den besser situierten Schichten hört man oft: "Wachstum ist ja gar nicht so wichtig." Aber wir haben eben auch viele Menschen, für die ist es durchaus wichtig, dass in Deutschland weiterhin Chancen zu realisieren sind. Und das geht natürlich in einer Wirtschaft, die wächst und wo dann natürlich auch die Steuereinnahmen, die der Staat verausgaben kann, wachsen, deutlich einfacher als in einer Situation, wo wir eben gerade unseren Status halten. Da dürften die Verteilungskämpfe härter werden. Da dürfte auch die politische Stimmung und der Extremismus stärker ausgeprägt werden. Das ist eine Situation, die wir schon als Volk gemeinsam verhindern müssen.
Also im Endeffekt geht es darum, eben auch gemeinsam dieses Mindset zu ändern und auch wieder eine Perspektive zu haben, dass man auch mithilfe des Mittelstands eben um seinen wirtschaftlichen Wohlstand kämpft und innovativ und gut ist und den Ehrgeiz hat, eben zusätzliche Wertschöpfung zu generieren in Deutschland.
Im Video: Ist der Mittelstand in Deutschland noch zu retten? Possoch klärt!
Wirtschaft oft flexibler als Politik
BR24: Ist der deutsche Mittelstand denn resilient genug, um sowohl die Krisen hinter sich lassen als auch diese bevorstehenden Herausforderungen angehen zu können?
Grimm: Man muss schon sehen, dass die Wirtschaft sehr anpassungsfähig ist – und zwar oftmals deutlich anpassungsfähiger als die Politik. Wir müssen jetzt natürlich schaffen, attraktive Rahmenbedingungen bereitzustellen in Deutschland. Die Unternehmen und auch die mittelständischen Unternehmen vergleichen natürlich die Bedingungen, die Rahmenbedingungen, die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland mit der Wettbewerbsfähigkeit in anderen Regionen. Wenn zum Beispiel hier die Arbeitskosten oder die Fachkräfteverfügbarkeit schlechter sind als in anderen Regionen, dann verlagert man eben auch Teile seiner Aktivitäten ins Ausland.
Es ist eben auch nicht so, dass der Mittelstand zugrunde geht, wenn wir in Deutschland schlechtere Bedingungen bekommen. Viele verlagern dann ihre Aktivitäten, und das muss uns als Land natürlich Sorgen machen. Wir haben schon politischen hohen Druck, gute Rahmenbedingungen für die Unternehmen bereitzustellen.
BR24: Was wäre denn die Konsequenz daraus, wenn die Unternehmen tatsächlich häufiger ins Ausland verlagern?
Grimm: Wenn wir Wertschöpfung ins Ausland verlagern, dann haben wir einfach weniger Wirtschaftswachstum, weniger Produktivität, können auch weniger auf Unternehmen zurückgreifen, die gute Ideen haben, wie man die Energiewende umsetzt, wie man innovativ ist, neue Wachstumschancen eröffnet. Das wäre für die deutsche Wirtschaft nicht gut.
Es wird nicht alles so weitergehen wie bisher, denn wir haben ja viele Transformationen vor uns. Transformation im Bereich Klimaneutralität, Transformation im Bereich Digitalisierung, künstliche Intelligenz wird ein großes Thema. Auch viele Innovationsbereiche sind natürlich welche, die vielleicht bisher nicht so stark im Fokus standen und nun stärker im Fokus stehen, zum Beispiel auch in der Pharmaindustrie. Und da brauchen wir natürlich die innovativen, veränderungsfreudigen Unternehmen und die Unternehmer.
Zu unterschiedliche Vorstellungen in der Koalition
BR24: Sind also manche Probleme möglicherweise auch hausgemacht, also von den Unternehmern und Unternehmerinnen nicht rechtzeitig angegangen worden?
Grimm: Es gibt Unternehmen, die haben sich gut vorbereitet auf zukünftige Rahmenbedingungen. Es gibt Unternehmen, die haben Dinge übersehen. Aber letztlich ist es ja so, dass die Unternehmen privatwirtschaftlich, gerade die Mittelständler, gerade die Familienunternehmen, selber dafür haften, wenn sie Fehler machen und insofern ist es glaube ich auch so, dass man schon darauf vertrauen kann, dass die Unternehmen in ihrer Gesamtheit Chancen ergreifen, aber natürlich sich auch zu Wort melden, wenn die Rahmenbedingungen unattraktiv werden. Und ich glaube, das tun sie gerade zurecht.
Ich glaube, wir müssen uns schon überlegen, wie wir nicht mit Subventionen und staatlichen Hilfen, zum Beispiel bei den Strompreisen, zum Beispiel bei der Förderung einzelner Unternehmen, agieren können, sondern wie wir es schaffen, für Unternehmen und Unternehmer, die gute Ideen haben, einfach ein attraktives Umfeld zu schaffen, um zu wirtschaften. Darum muss es eigentlich gehen in der Politik. Und hier behakelt man sich zu sehr in der Koalition, weil man einfach völlig unterschiedliche Vorstellungen hat.
Im Audio: Wirtschaftsweise Veronika Grimm im Interview mit BR24 für "Possoch klärt"
Politik muss gute Rahmenbedingungen schaffen
BR24: Welchen Anteil hat denn die Politik an den Problemen, mit denen die mittelständischen Unternehmen konfrontiert sind? Sind das auch Versäumnisse vergangener Legislaturen?
Grimm: Die Politik hat schon das Problem, dass sie erstens zu sehr auf die ganz Großen guckt und die allgemeinen Rahmenbedingungen für eben die vielen kleinen mittelständischen Unternehmen nicht signifikant verbessert, dass sie eine große Bürokratielast beschließt mit vielen Initiativen, die vorangebracht werden.
Und das ist natürlich eine schwierige Rahmenbedingung für Unternehmen, die nicht im Fokus von Fördermaßnahmen stehen und vielleicht auch zu klein sind, um diese Fördermaßnahmen tatsächlich zu beantragen, denn die Beantragung von Fördermaßnahmen, das braucht ja wiederum auch Mitarbeiter. Das ist mit Bürokratie und Berichtspflichten verbunden und ist typischerweise für ein kleines Unternehmen mit geringem Mitarbeiterstamm schwieriger als für ein großes Unternehmen, das da auch größere Summen dann mitnehmen kann.
Die Politik, die Bundesregierung ist sich nicht einig, ob sie generell die Rahmenbedingungen verbessern will und auf die Marktwirtschaft setzen will oder ob sie da sehr stark gestaltend agieren will und mit Fördermaßnahmen tatsächlich bestimmte Bereiche fördern will. Da ist sich die Bundesregierung unter sich nicht einig, also FDP auf der einen und Grüne und SPD auf der anderen Seite. Und das etabliert eine Unsicherheit für die Unternehmen, die natürlich dann Investitionstätigkeiten reduzieren, weil man erst mal einfach abwartet, auf was sich die Politik jetzt letztendlich dann einigt.
BR24: Bieten denn Vorstöße wie etwa das diese Woche diskutierte Zwölf-Punkte-Papier der FDP adäquate Lösungsansätze?
Grimm: Ich glaube, wir müssen schon es schaffen, eine Balance zu finden, die dann am Ende dazu führt, dass der Wirtschaftsstandort auch attraktiv ist. Wir haben im Bereich der Sozialpolitik umfangreiche Ausgaben beschlossen, auch in den vergangenen Jahren. Die aktuelle Bundesregierung, aber auch die Merkel-Regierung haben das getan. Und wir haben einfach eine Last aus den Sozialausgaben, die dazu führt, dass die Politik nicht mehr viel Handlungsspielraum hat. Da müssen eigentlich konsequente Maßnahmen beschlossen werden.
Ein Punkt, der jetzt nicht auf dem Zwölf-Punkte-Plan der FDP ist, aber der wirklich dringend angegangen werden muss, ist, dass die die Belastung des Bundeshaushalts durch den Zuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung reduziert werden muss. Die letzten Beschlüsse der Ampelkoalition haben eher dazu geführt, dass die Ausgaben für die gesetzliche Rentenversicherung noch steigen werden. Und das ist natürlich problematisch, diese zusätzlichen Ausgaben, die da aus dem Sozialsystem kommen, die reduzieren Stück für Stück eben den Spielraum der Politik für Steuersenkungen, was natürlich für den Mittelstand attraktiv wäre oder eben auch für öffentliche Investitionen, was dazu beitragen würde, dass die Infrastruktur, auf der man in Deutschland agiert, einfach besser werden würde.
Und das wären wichtige Handlungsfelder. Und hier muss man eine gute Balance finden zwischen Investitionen und zukunftsorientierten Ausgaben, der auch attraktiven Ausgestaltung des Steuersystems und eben dem Sozialstaat.
BR24: Danke für das Gespräch.
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