Wo waren Sie am 11. September 2001? Fast jeder hat eine Antwort darauf und kann sagen, wie er oder sie von den Terroranschlägen auf das World Trade Center erfahren hat, an welchem Ort er war und mit wem. Es ist ein Moment der Weltgeschichte, der sich bei vielen ins Gedächtnis eingebrannt hat. Aber ob das stimmt oder unsere Erinnerungen uns täuschen, darüber gibt es berechtigte Zweifel.
Die 9/11-Attacke ist eine sogenannte Flashbulb Memory, zu Deutsch: Blitzlichterinnerung. "Eine Blitzlichterinnerung ist eine Erinnerung an die Umstände, in der man über ein emotional aufgeladenes Ereignis erfährt", erklärt William Hirst im BR24-Interview. Hirst ist Professor an der New School of Social Research in New York und einer der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der "Flashbulb Memories". Es geht bei Blitzlichterinnerung also nicht um Faktenwissen, sondern um autobiographisches Wissen - keine Erinnerung an ein dramatisches Ereignis an sich, sondern daran, an welchem Ort man war, mit wem und wie man sich gefühlt hat.
Bei 40 Prozent ändert sich die Erinnerung
Zahlreiche Ereignisse der Geschichte fallen in diese Kategorie: für US-Amerikaner unter anderem die Ermordung John F. Kennedys oder die Challenger-Katastrophe, bei der 1986 ein Space Shuttle nach Start explodierte und alle sieben Besatzungsmitglieder ums Leben kamen; für Deutsche der Fall der Berliner Mauer – und für fast jeden in der westlichen Welt die Terroranschläge vom 11. September.
Die Blitzlichterinnerungen zu 9/11 haben Hirst und seine Kollegin Elizabeth Phelps in einer Studie genauer untersucht. Die Idee kam ihnen am 12. September 2001, als sie in einem New Yorker Restaurant saßen, so nah an Ground Zero, dass man den Rauch noch riechen konnte. Über 3.000 Menschen aus sieben US-Städten haben sie befragt - kurz nach den Anschlägen, ein Jahr danach, zwei Jahre danach und zehn Jahre danach. Dabei zeigte sich: Auch wenn sich jeder seiner Erinnerung an dieses Ereignis sicher war – viele lagen falsch.
Eigentliche Erinnerung kann mit falscher "überschrieben" werden
Rund 40 Prozent aller Teilnehmenden erzählten mit der Zeit eine andere Version ihrer Erinnerung als kurz nach den Anschlägen. Eine der Befragten sagte zunächst, dass sie in der Küche gewesen sei und Frühstück gemacht habe, als sie von der Attacke auf das World Trade Center gehört habe. Ein Jahr später war sie sich sicher, sie sei im Waschraum gewesen und habe Klamotten zusammengelegt. Andere erzählten zunächst, dass sie auf der Arbeit davon erfahren hätten. Ein Jahr später sagten sie, dass sie noch im Zug auf dem Weg zur Arbeit gewesen seien. Oder sie waren in der Uni-Cafeteria während der Anschläge – später laut ihren Erzählungen im Studentenwohnheim.
Es seien hauptsächlich sogenannte "time slice errors", also Verschiebungen bei der zeitlichen Abfolge von Handlungen, die auftreten, so der Forscher William Hirst. Mehrere Dinge passieren innerhalb eines Zeitfensters, diese werden in Erinnerungen vermischt. Dazu kommt in einem Fall wie 9/11: Dadurch, dass wir immer und immer wieder die Bilder der Anschläge sehen, so viel über das Ereignis gesprochen wird, könne unsere Erinnerung auch dadurch verändert werden.
"Was interessant ist", sagt Hirst, "wenn sie einmal einen Fehler gemacht haben, dann neigen Menschen dazu, bei dieser Version zu bleiben". Das liege daran, weil man die falsche Geschichte immer und immer wieder erzählt. Man übe den Fehler und dieser überschreibe dann die eigentliche Erinnerung. "Das macht die Geschichte nicht richtig", so Hirst, aber es lasse einen denken, dass sie richtig sei.
Warum Erinnerungen ein emotionales Thema sind
Warum Erinnerungen sich überhaupt verändern können, ohne dass man es bemerkt? "Unsere Erinnerungen sind schlicht nicht verlässlich", erklärt Hirst. Viele hätten die Vorstellung, dass unsere Erinnerungen wie ein Computerspeicher funktionierten. Dem sei aber nicht so. Erinnerungen würden mit jeder Erzählung neu aufgebaut, die Einzelteile neu zusammengesetzt. Teile der ursprünglichen Erzählung können weggelassen werden, andere könnten hinzukommen. "Jedes Mal, wenn wir Erinnerungen abrufen, besteht die Möglichkeit, dass wir sie unbewusst verändern." Deswegen sei es für den Forscher überraschend in seiner Studie gewesen, dass eine falsche Erinnerung solang Bestand haben könne.
Bei vier von zehn Menschen war dies in der Studie von Hirst der Fall. Damit konfrontiert, wollten die Probanden es meistens nicht wahrhaben. Dieses Ereignis? Nicht richtig abgespeichert? Das kratzt an der Identität, erklärt Hirst von der New School of Social Research. "Wenn ich fragen würde 'Wo waren Sie, als Ihre Mutter angerufen hat, um zu sagen, dass Ihr Vater gestorben ist?' und Sie hätten keine Antwort, dann würde ich denken 'was für ein Sohn sind Sie denn?'" Ähnlich sei dies mit 9/11: "Was für ein Amerikaner ist man, wenn man nicht weiß, wo man an diesem Tag war?" Deshalb ist das Festhalten an der eigenen Erinnerung ein emotionales Bedürfnis - auch wenn sie falsch ist.
- Zum Artikel: Boatlift 9/11: Die unbekannte Rettungsgeschichte von Manhattan
"Erinnerung wird genutzt, um Identität zu bilden"
Mehrere Studien haben gezeigt, dass Menschen sich bei Blitzlichterinnerungen täuschen können. Im Fall der Challenger-Katastrophe sollten die Studienteilnehmenden ihre Erinnerungen aufschreiben. Denjenigen, bei denen sich die Erzählung geändert hatte, wurde ihre Aufzeichnung vorgelegt. Sie erkannten ihre Handschrift, hielten es aber für unmöglich, dass sie das verfasst hätten. Schließlich sei ihre Erinnerung eine ganz andere.
William Hirst will zum 25. Jahrestag des 11. September seine Studienteilnehmenden erneut befragen. "Es ist nicht klar, dass wir da dieselben Ergebnisse bekommen werden", so der Forscher. Es gebe kaum Langzeitstudien zu Blitzlichterinnerungen. Eine der wenigen beschäftigt sich mit dem Zweiten Weltkrieg in Dänemark und auch diese Studie zeigt, dass Menschen in ihren Erinnerungen falsch liegen können - und dass offenbar Emotionen eine Rolle spielen können.
Dabei ging es um das Wetter am Tag, als die Deutschen einmarschierten und an dem Tag, als sie das Land verließen. Bei vielen war die Erinnerung zutreffend. "Der interessante Teil aus der Perspektive der Identität ist, dass die, die einen Fehler in ihren Erinnerungen hatte, das Wetter viel schlechter schildern, als es tatsächlich war, als die Deutschen einmarschierten", erklärt Hirst. Umgekehrt hätten sie das Wetter viel besser in Erinnerung gehabt, als es tatsächlich war, als die Wehrmacht das Land verließ. "Die Erinnerung wird genutzt, um eine Identität zu bilden", so Hirst.
Auch US-Präsidenten können daneben liegen
Die Fehler in der Erinnerung sind nicht nur bei Teilnehmenden von Studien zu beobachten, sondern auch bei US-Präsidenten. "Als wir in das Klassenzimmer gegangen sind, hatte ich das Flugzeug in das erste Gebäude fliegen sehen", sagte der ehemalige US-Präsident George W. Bush Anfang Januar 2002 über 9/11. "Da war ein Fernseher an und ich dachte an einen Pilotenfehler und war erstaunt, dass jemand so einen schrecklichen Fehler machen konnte."
Das Problem daran: Bush konnte zu diesem Zeitpunkt gar nicht das erste Flugzeug in den ersten Turm fliegen sehen. Bis zu dem Moment, in dem Bush in das Klassenzimmer ging, wurde noch keine Aufnahme des Aufpralls des ersten Flugzeugs im Fernsehen gezeigt.
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