Nach der Trennung der Eltern lehnen manche Kinder einen Elternteil ab. Der Grund kann eine Eltern-Kind-Entfremdung sein. Wie kommt es überhaupt zur Entfremdung? Und was kann man dagegen machen? Fragen von BR-Feature-Autor Tom Noga an Prof. Menno Baumann, der Intensivpädagogik und Soziale Arbeit an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf lehrt. Er beriet etwa die Produktion des Filmes "Systemsprenger“.
Trennung und Scheidung sind ideologisch besetzt
Tom Noga: Warum wissen wir so wenig über Entfremdung?
Menno Baumann: Das Thema der "gleichberechtigten Scheidung", in der die Elternteile gemeinsam Eltern bleiben, ist kulturell gesehen ein relativ neues Phänomen, das lange Zeit die Ausnahme bildete und mit einem gewissen Vorbehalt versehen war. Hatten Kinder Probleme, wurde die Scheidung als solche als Ursache gesehen. Mittlerweile leben wir in einer anderen Realität.
Tom Noga: Man hat den Eindruck, das Thema ist ideologisch stark besetzt.
Menno Baumann: Absolut. Beim Thema Trennung und Scheidung ist der erste Aspekt, der uns auch ins Auge gefallen ist, das Armutsrisiko von Alleinerziehenden, überwiegend Müttern. In den 90er-Jahren war im Prinzip ein alleinerziehender Elternteil in der Regel für den Rest der Kindheit der Kinder alleinerziehend. Das ist heute längst nicht mehr Realität. Heute ist alleinerziehend in der Regel eher eine kurze Phase, und dann geht das in den Status der Patchwork Familie über.
Aber diese Zeit, in der man alleinerziehende Elternteile sehr stark in Schutz genommen hat, weil sie eine gesellschaftliche Randgruppe waren, die großen Risikofaktoren ausgesetzt war, hat die Debatte sehr stark ideologisch geprägt. Es ist richtig, dass Staat, Politik und Gerichte Elternteile schützen, die ihr Kind alleine großziehen müssen. Wenn der andere Elternteil mit erziehen, was aus Sicht des Kindes immer wünschenswert ist, kommt es zu Konflikten.
Entfremdung zwischen Eltern und Kindern noch nicht erfasst
Tom Noga: Wie sieht es international aus?
Menno Baumann: Wir haben interessante Studien aus Skandinavien, in denen die Auswirkungen auf ein Kind untersucht werden, das den Kontakt zu einem Elternteil auf Dauer verliert. Eines der Probleme beim Familiengericht ist, dass der Abbruch des Kontakts im ersten Moment oft zu einer gewissen Beruhigung führt: Die oberflächlichen Symptome des Kindes gehen zurück und das Kind scheint sich zu beruhigen. In den skandinavischen Studien sind sehr langfristige und sehr schwerwiegende Auswirkungen auf den Gesundheitszustand von Kindern und vor allen Dingen auch von jungen Erwachsenen festgestellt worden. Das heißt, die Rechnung kommt häufig sehr spät.
Tom Noga: Sie schreiben in einem Aufsatz, die Eltern-Kind-Entfremdung sei empirisch noch nicht wirklich erfasst. Was bedeutet das?
Menno Baumann: Genau besehen ist der häufigste Ansatz, um Eltern-Kind-Entfremdung zu erklären, das "Parential Alientation Syndrome", ein Ansatz, der aus der amerikanischen Psychoanalyse stammt. Dieser Ansatz ist problematisch, weil er aus dem Verhalten des Kindes automatisch auf Manipulation des hauptbetreuenden Elternteils schließt. So einfach, wie da suggeriert, ist es aber nicht.
Dr. Katharina Behrendt hatte dann einen anderen Ansatz fokussiert, indem sie Umgangsschwierigkeiten etwas weiter differenziert. Sie hat drei Felder aufgemacht. Damit geht sie einen deutlichen Schritt in die Richtung der Komplexität weiter. Aber ich glaube, dass es noch mehr Kontexte gibt. Nämlich sechs verschiedene Kontexte, in denen Loyalitätskonflikte auftreten können, die dann zu einer Entfremdung zwischen Kind und Eltern führen können.
Erstens: Das Ausweichen von akuten Konfliktsituationen. Zweitens natürlich die Instrumentalisierung. Dann die Verletzung. Viertens: Das Kind will einen Elternteil schützen. Das erleben wir in der Jugendhilfe sehr oft. Das Kind realisiert, dass einer der Elternteile, der in "Anführungsstrichen" schwächere ist, der Situation nicht gewachsen ist, der überfordert ist, und stellt sich dann schützend auf dessen Seite und führt einen Stellvertreterkampf.
Fünftens gibt es familiäre Rollen, dass zum Beispiel ein Kind in die Rolle eines Partnerersatz kommt oder, wenn eine neue Beziehung vorliegt, das Kind sich in die Rolle des Kindes des neuen Partners begeben muss. Und dann: Loyalität als Verteidigung der Identität. Wenn zum Beispiel ein Kind das Gefühl hat, es hat viele Eigenschaften von einem Elternteil, dieser aber im Feuer der allgemeinen Debatte eher negativ wegkommt. Selbstverständlich gibt es diese prototypischen Formen selten in Reinkultur, dazu ist der Trennungsprozess zu dynamisch. Außerdem spielen andere auch kulturelle Faktoren hinein.
Besseres Verständnis über Konflikt-Dynamik in der Familie
Tom Noga: Was kann man gegen Entfremdung tun?
Menno Baumann: Erstens brauchen wir ist ein vertieftes Verständnis der Konflikt-Dynamik, die sich in der Familie abspielt. Was passiert da wirklich? Wer zieht in welche Richtung? Dieses Rückspiegeln einer Dynamik kann einen Konflikt schon entspannen, weil die Eltern realisieren, was sie tun, und so die Chance erhalten, ihr Verhalten zu ändern.
Zweitens, und das ist besonders wichtig: so früh wie möglich eingreifen Das gefährlichste bei Entfremdungsprozessen ist, dass man sie laufen lässt. Dann nämlich verhärten sich die Situation und die Gefühle. Viele Kinder haben dann tatsächlich wieder Angst vor dem Erstkontakt mit dem anderen Elternteil, weil sie gar nicht wissen, wie der reagieren wird. Solche Dinge bauen sich auf.
Tom Noga: Wo fängt Entfremdung und woran erkennt man sie?
Menno Baumann: Es gibt diverse Szenarien, die auf Entfremdung hindeuten: Wenn ein Kind die Kontakte zu einem Elternteil aktiv in Frage stellt. Spätestens wenn die Kita oder die Schule Auffälligkeiten vor oder nach einem Umgangskontakt meldet. Wenn das der Fall ist, muss schon die Beratung einsetzen, um zu überlegen, was zu tun ist, damit daraus kein Entfremdungsprozess wird.
Der Wille des Kindes
Tom Noga: Wäre die Doppelresidenz in solchen Fällen hilfreich, also das Wechselmodell?
Menno Baumann: Das ist aus der Ferne schwer zu sagen. Aber internationale Studien belegen: Je symmetrischer die Betreuung, desto besser fürs Kind, auch bei konflikthaften Trennungen. In Deutschland hält sich dagegen hartnäckig der Standpunkt, bei hoch konflikthaften Trennungen seien viele Umgänge nicht hilfreich. Das ist empirisch widerlegt. Je symmetrischer die Betreuungszeit, desto besser. Und je mehr jeder Elternteil dem anderen die Betreuungszeit auch zugesteht, desto einfacher.
Tom Noga: Wie ist in diesem Kontext der Kindeswille zu sehen? Und was, wenn er beeinflusst ist?
Menno Baumann: Ob der Kindeswille induziert ist, kann nur im Einzelfall geklärt werden und auch dort nicht immer hundertprozentig. Selbst induziert ist es immer noch Kindeswille und das Kind wird es als Gewalt empfinden, wenn er verletzt wird. Aber auch hier spielt der Schutzgedanke eine Rolle: Auch Entfremdung ist Gewalt gegen das Kind. Man muss hier sehr sauber abwägen, damit das Kind nicht aus einem Elternkonflikt noch geschädigter hervorgeht, als es das sowieso schon wird. Und es spielt natürlich auch eine Rolle, wie fest der Kindeswille ist.
Tom Noga: Wie findet man das heraus?
Menno Baumann: Es gibt einerseits die Kontextgebundenheit: Wenn ein Kind in einem Kontext andere Antworten gibt als im anderen. Ein weiteres Kriterium sind Widersprüche in den Aussagen oder wenn ein Elternteil viel zitiert wird. "Mama sagt" oder "Papa sagt". Das sind deutliche Warnsignale, vor allem, wenn es Überschneidungen zu den Aussagen eines Elternteils gibt, etwa wörtliche Zitate.
Oder wenn das Kind Aussagen macht, die nicht seinem altersgemäßen Sprachgebrauch entsprechen. Dann kann man davon ausgehen, dass der entsprechende Elternteil mit dem Kind darüber gesprochen hat. Wenn Dinge mit dem Kind besprochen werden, die auf die Erwachsenen-Ebene gehören, muss man hellhörig werden.
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