Cannabis – das ist der lateinische Begriff für Hanf – ist seit mehr als 5.000 Jahren bekannt. Bereits im Shennong Bencaojing, einem chinesischen Arzneibuch über Heilpflanzen, aber auch in Schriftstücken aus dem alten Indien und Ägypten wird die Hanfpflanze als Heilmittel beschrieben. Ärzte verwandten in der Antike Cannabis gegen Ohrenleiden und Schmerzen. Und auch Hildegard von Bingen nutzte Cannabis als Mittel gegen Magenschmerzen oder Übelkeit.
THC und CBD: Die wichtigsten Wirkstoffe von Cannabis
Heute ist bekannt, dass die Hanfpflanze über 500 Substanzen, davon mehr als 150 sogenannte Phytocannabinoide, enthält. Von einigen Cannabinoiden sind die Wirkmechanismen bekannt, viele sind aber noch nicht erforscht. Vor allem zwei Inhaltsstoffe stehen im Fokus medizinischer Studien: Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD).
Raucht man Cannabis, wirkt THC am schnellsten, da die Wirkung des Cannabinoids über die Atemwege unmittelbar die Blut-Hirn-Schranke überwindet – bereits nach 20 Minuten spürt man eine starke psychoaktive Wirkung, die nach etwa zwei bis drei Stunden (je nach konsumierter Menge) wieder abklingt. Schluckt man Cannabis als ölige Tropfen oder Kapsel, setzt die Wirkung verzögert, dafür mitunter aber umso heftiger ein. Insgesamt wirkt THC berauschend, entspannend und kann Brechreiz dämpfen.
Anders als Tetrahydrocannabinol hat Cannabidiol keine berauschende Wirkung und kein Suchtpotenzial. CBD wird eine Wirkung bei Kopfschmerzen, Ängsten und Einschlafstörungen zugeschrieben. Als gesichert gilt der therapeutische Nutzen von CBD bei Epilepsie. Studien belegen die Wirksamkeit bei der Behandlung schwerer, kindlicher Krampfanfälle. Das CBD-haltige Antiepileptikum Epidiolex wurde 2018 von der amerikanischen Arzneimittelagentur FDA als erstes Arzneimittel mit einem Wirkstoff auf Cannabisbasis zugelassen. 2019 folgte die Zulassung in der EU. Darüber hinaus ist CBD Bestandteil des Wirkstoffs Nabiximols (Sativex), der gegen Spasmen (Muskelkrämpfe) bei Multipler Sklerose eingesetzt wird und Schmerzen, insbesondere bei Patienten mit chronischen, neuropathischen Schmerzen, lindert. Zudem könnte CBD gegen Tumore und in der Palliativmedizin helfen.
Cannabis kann lindern, aber nicht heilen
Sicher scheint, dass die in Cannabis enthaltenen Stoffe die Ursache von Krankheiten nicht heilen können, sondern Symptome einer Erkrankung lindern. Die Wirkung der in Cannabis enthaltenen Stoffe auf das Gehirn und den Körper sind stets dieselben. Allerdings wirken Cannabis-Medikamente im Rahmen einer medizinischen Therapie von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Woran das liegt, ist noch ungeklärt. Erst in den vergangenen Jahren wird die Wirkweise von Cannabis zunehmend erforscht. 2018 gab die sogenannte CaPRis-Studie einen Überblick über den damaligen Stand der Cannabis-Forschung. Für die Übersichtsarbeit hatte das deutsche Autorenteam mehr als 2.000 wissenschaftliche Studien der vorangegangenen zehn Jahre aus fünf internationalen Datenbanken gesichtet und ausgewertet.
Dennoch beklagen Mediziner wie Prof. Dominik Irnich, Leiter der Schmerzambulanz am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), dass es nach wie vor zu wenig aussagekräftige Studien zur Wirkweise von Cannabis gebe, da diese mit erheblichem Zeit- und Geldaufwand verbunden, öffentliche Forschungsgelder aber begrenzt seien. "Viele Forscher aus den verschiedensten Gebieten konkurrieren um relativ wenige finanzielle Mittel. Hinzu kommt, dass während der Pandemie öffentliche Forschungsgelder relativ unkritisch und einseitig an Corona-Projekte vergeben wurden." Schließlich hätten forschende Unternehmen nicht unbedingt Interesse an strenger Forschung, da die Vermarktung auch ohne Studien anscheinend gut funktioniere.
Wirkweise von Cannabis-Wirkstoffen ungeklärt
Die Zurückhaltung in der medizinischen Forschung gegenüber der Heilpflanze Cannabis hat auch historische Gründe: Im 20. Jahrhundert gerieten Hanfpräparate in die Kritik und wurden 1925 auf der internationalen Opiumkonferenz in Genf vom Völkerbund geächtet, um die weltweit grassierende Drogensucht sowie den Handel mit Rauschmitteln und den Konsum von Cannabis einzudämmen. Und obwohl das Interesse an Cannabis-Präparaten in der Medizin zunimmt, ist die Studienlage im Hinblick auf viele Krankheiten und Symptome noch immer voller Lücken. "Es gibt eine Vielzahl von möglichen Indikationen, für die es Hinweise für eine Wirksamkeit Cannabis-basierter Medikamente gibt", bestätigt Prof. Kirsten Müller-Vahl, Neurologin an der Medizinischen Hochschule Hannover und Vorstandsmitglied der "Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin".
Nach wie vor ist beispielsweise unklar, wie Cannabis etwa das Endocannabinoid-System im menschlichen Organismus beeinflusst. Diese Andockstellen für vom Körper produzierte Cannabinoide, sogenannte CB-Rezeptoren, befinden sich im zentralen Nervensystem, aber auch in nahezu allen Organen des menschlichen Körpers. "Die Funktionen dieser Rezeptoren sind sehr vielfältig und die Regulation ist sehr komplex und weitgehend unverstanden", sagt Schmerzmediziner Dominik Irnich.
CB-Rezeptoren spielten unter anderem eine Rolle bei der Temperaturregulation, Fruchtbarkeit, Schlafregulation, Verdauung, Gedächtnis und Lernen, Appetitregulation, Stressregulation, aber auch generell bei der Nervenregulation. "Da kann es schon sein, dass das ein oder andere Symptom (durch Cannabis) mal gebessert wird, aber gute Studien erfordern eben auch die Erfassung von Langzeitwirkungen und unerwünschte Wirkungen, insbesondere im Vergleich zu etablierten Therapien."
Cannabis als Schmerzmittel
In Deutschland wird Cannabis derzeit vor allem als Schmerzmittel für schwerwiegende Erkrankungen eingesetzt. Darüber hinaus werden Cannabinoide gegen Appetitlosigkeit bzw. Gewichtsverlust aufgrund von schweren Erkrankungen wie HIV/AIDS, gegen Übelkeit und Erbrechen unter Chemotherapie bei Tumorerkrankungen sowie bei einer seltenen Form von kindlicher Epilepsie verordnet. Während für diese zugelassenen Indikationen ein Wirknachweis vorliegt, gibt es bei anderen potenziellen Einsatzbereichen zwar Daten, aber keine Studien, die einen Beweis im wissenschaftlichen Sinne erbringen.
Daher existiert seit 2017 die gesetzliche Regelung, dass Krankenkassen auch dann die Kosten für eine Cannabis-Therapie übernehmen müssen, wenn keine Beweise vorliegen, aber eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf einen Behandlungserfolg besteht. Tatsächlich werden aber nach Angaben der "Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin" fast 40 Prozent der Anträge von den Krankenkassen abgelehnt, "was zu einer hohen Quote von Privatzahler:innen in unseren Apotheken führte", sagt Dr. Christiane Neubaur, Geschäftsführerin des Verbandes der Cannabis versorgenden Apotheken.
Wie erfolgreich sind Cannabis-Therapien?
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat in einer Begleiterhebung protokolliert, wie Cannabis-Arzneimitteln seit 2017 in Deutschland verwendet wurden. Das Ergebnis: Mehr als 75 Prozent der Patienten wurden aufgrund chronischer Schmerzen behandelt. Weitere häufig behandelte Symptome waren Spastik (9,6 Prozent) und Appetitverlust bzw. Gewichtsabnahme. Nach Angaben von Schmerzmediziner Dominik Irnich brächen mindestens 30 Prozent der Patientinnen und Patienten die Therapie sofort wegen unerwünschter Nebenwirkungen ab, ein weiteres Drittel beendet die Behandlung wegen Wirkungslosigkeit.
"Es gibt eine psychische Abhängigkeit, aber auch körperliche Symptome bei PatientInnen die lange Zeit hochdosiert Cannabis konsumieren", sagt der Mediziner von der LMU München. Schätzungen zufolge hätten 10 Prozent der Cannabis-Konsumenten ein echtes Suchtproblem, das sei, so Irnich, vor allem ein großes Problem bei jungen Menschen. "Aus diesem Grund sollte unbedingt auf das Verschreiben von Blüten verzichtet werden, die ja auch gar keinen nachgewiesenen Vorteil erbringen."
Seltene Erkrankungen nicht aus dem Blick verlieren
Insgesamt, so schreiben die Autoren der Begleiterhebung des BfArM in ihrem Abschlussbericht, habe sich seit 2017 die Behandlung chronischer Schmerzen als die zentrale Indikation für eine Cannabis-Therapie herausgestellt. Da chronische Schmerzen in der Bevölkerung sehr häufig seien, sieht das BfArM allerdings die Gefahr, dass seltene Erkrankungen, wie z.B. Tic-Störungen (eine neuropsychiatrische Erkrankung, zu denen auch das Tourette-Syndrom gehört) oder Sonderformen des Kopfschmerzes, bei der Entwicklung weiterer Fertigarzneimittel auf Cannabis-Basis vernachlässigt werden.
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