Auf über 83 ist sie laut Robert Koch-Institut gestiegen, die 7-Tages-Inzidenz in Deutschland. In Bayern liegt sie mittlerweile bei knapp unter 90. Der Blick auf die kritischen Zahlen zeigt also: Legt man den beim letzten Corona-Gipfel beschlossenen Stufenplan zugrunde, steuert man erneut auf eine angespannte Situation zu. Der Inzidenzwert von 100 scheint in nächster Nähe.
Rosenheim will 130er-Grenzwert
Doch die Stimmen mehren sich, die die ausschlaggebende 100er-Grenze als überholt beschreiben: So hat nun der Rosenheimer Bürgermeister Andreas März beantragt, dass der Wert für seine Stadt von 100 auf 130 angehoben werden solle. Präsenz- und Wechselunterricht in Schulen sollen bis dahin erlaubt sein – auch die Kitas blieben dann geöffnet. Die 7-Tages-Inzidenz der Stadt liegt im Moment bei über 200. Grund dafür sei die geringe Zahl der Einwohner, so März.
Mit der Forderung einher geht seine Kritik an einer vermeintlich zu starken Fokussierung auf den Inzidenzwert. Denn man müsse auch auf andere Werte schauen. Eine Einschätzung, der sich auch so mancher Wissenschaftler anschließt. Göran Kauermann, Inhaber des Lehrstuhls für Statistik an der LMU München, mahnt an, man solle mehr auf die sinkenden Zahlen von Neuhospitalisierungen auf Intensivstationen und von Todesfällen blicken. Man müsse wiederum bezüglich des Inzidenzwerts beachten, dass sich dessen Zusammensetzung besonders in den letzten Wochen und Monaten stark verändert habe:
„Durch die fortschreitende Impfstrategie ist es so, dass wir abfallende Zahlen bei den Inzidenzen von Über-80-Jährigen haben. Durch Schulöffnungen sehen wir eine Zunahme der Inzidenzen bei Schülern. Insofern kann man die Inzidenzen heute schlecht mit denen von Oktober oder November vergleichen. Wenn man heute Inzidenzen heranziehen will, die die Gefährlichkeit der Krankheit widerspiegeln, dann wären das die der 60- bis 79-Jährigen.“ Göran Kauermann, LMU München
Katastrophale Datenlage in Deutschland
Der Statistiker zweifelt also die Aussagekraft wenig differenzierter Inzidenzzahlen an. Doch damit nicht genug: Darüber hinaus bemängelt er die generelle Corona-Datenlage in Deutschland: Dies sei ein Problem, das schon bei den Gesundheitsämtern seinen Anfang nehme. Die Wege der Daten seien nicht immer fehlerfrei. Und besonders fehle ein grundlegendes Datenmanagement von Anfang bis Ende. Generell gelte die Devise: Langzeitprognosen sind schwierig.
Bedenken bei aktuellen Lockerungen
Zumindest dieser Devise kann sich auch Dirk Brockmann, Professor an der HU Berlin und RKI-Epidemiologe, anschließen. Auch er ist der Meinung, dass eine Pandemie wie die aktuelle aufgrund ihrer Dynamik extrem schwer zu verstehen und langfristig einzuschätzen ist. Anders als Kauermann, der keinen akuten Grund zu Sorge sieht, äußert Brockmann große Bedenken in Bezug auf die aktuellen bundesweiten Lockerungen und beschreibt sie als irrational.
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Er spricht sich für die sogenannte No-Covid-Strategie aus und fordert ein regional differenziertes Drücken der Inzidenz. Wenn der Inzidenzwert anzeigt, wie der Zustand aktuell ist, dann vermittelt der Reproduktionswert die Richtung, in die es geht. Im Moment liegt die Reproduktionszahl in Deutschland bei 1,15. Und das wiederum heißt, dass sich das Virus exponentiell ausbreitet. Der Inzidenzwert bleibt dabei ein zentraler Indikator:
"Bei niedriger Inzidenz, da können die Ursprünge der Ansteckungen rückverfolgt werden. Da kann man dann viel besser mechanistisch das Infektionsgeschehen einschränken. Das ist wie ein Schwelbrand, den kann man anders behandeln wie ein offenes Feuer." Dirk Brockmann, HU Berlin
Zahlen bilden Realität nie vollständig ab
Insgesamt scheint klar zu werden: Einerseits werden die Forderungen nach einer stärkeren Orientierung an anderen Zahlen als Inzidenz und Reproduktionswert lauter. Andererseits sollte das aber kaum zu einer vollständigen Vernachlässigung der bisher kritischen Zahlen und besonders nicht zu mangelnder Vorsicht im Umgang mit den gebotenen Corona-Maßnahmen führen. Denn festzuhalten bleibt: Einzelne Zahlen können eine wertvolle Orientierung bieten, die Realität vollständig abbilden können sie aber nie.
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