Die täglichen Zahlen des Robert Koch-Instituts bilden nur einen Teil der Corona-Pandemie ab. Sie zeigen, wer auf das SARS-CoV-2-Virus getestet wurde. Wie weit sich das Coronavirus in der gesamten Bevölkerung ausgebreitet hat, lässt sich so nur schwer abschätzen. Genau deshalb werden Kohortenstudien mit zufällig ausgewählten Studienteilnehmerinnen und Studienteilnehmern benötigt. Eine solche Studie wurde im April in München gestartet. Sie soll zeigen, wie viele Münchner sich tatsächlich mit dem Corona-Virus angesteckt haben.
Kohortenstudie: Wenn's an der Haustür klingelt
Bereits Anfang April 2020 ging es in München los. Da waren die Schulen in Bayern gerade erst seit drei Wochen geschlossen, der Freistaat weitgehend im Lockdown. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Tropeninstituts der Ludwig-Maximilians-Universität haben an über 3.000 zufällig ausgewählten Türen in München geklingelt.
Von den zufällig auswählten Probanden wurden Blutproben genommen. Mehr als 6.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zählt die Münchner Kohorten-Studie (KoCo19 Studie), die herausfinden soll: Wie weit hat sich das Corona-Virus in der Bevölkerung verbreitet – die sogenannte Prävalenz. Fast alle Haushalte haben inzwischen die individuellen Ergebnisse ihrer ersten Blutuntersuchung erhalten. Die letzten Ergebnisse werden gerade noch übermittelt. Der Studienleiter Michael Hoelscher erklärt den Studienprozess:
"Keiner von uns war sozusagen für so eine Studie zu hundert Prozent freigestellt. Das heißt, wir haben zwei Etagen Labor ausgerüstet parallel, wir haben eine komplett neue Infrastruktur geschaffen, wir haben parallel eine Teststation für die Münchner zur Bewältigung der Epidemie aufgebaut."
Mehrere neuere Antikörper-Tests im Einsatz
Um das Virus nachweisen zu können, nutzen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler u.a. Antikörper-Tests. Die zeigen an, wer schon eine Corona-Infektion durchgemacht hat, vielleicht auch, ohne es zu merken. Doch seit Anfang April kamen mehrere neue dieser Antikörper-Tests auf den Markt. Die mussten dann nachträglich in die Studie eingebaut werden. Gerd Antes, Medizin-Mathematiker und Vorreiter der evidenzbasierten Medizin in Deutschland, findet: Die Münchner Forscher haben hier einen guten Job gemacht: „Das Ganze macht aus meiner Sicht wissenschaftlich einen sehr soliden Eindruck.“
"Sorgfalt vor Schnelligkeit" - die Maxime der Münchner Forscher
Das Ganze dauert aber seine Zeit. Gerade wenn fürs Testen und Überprüfen noch andere Institute und externe Firmen eingespannt werden. Genau an dem Punkt stecken die Münchner Forscher gerade, erklärt Hoelscher:
"Wir arbeiten mit weiteren Kooperationspartnern zusammen, um diese Ergebnisse noch zu validieren und zu bestätigen. Da sind ungefähr 95 Prozent der Ergebnisse da. In der Regel dauert es immer noch einen Tick, bis man dann die letzten 5 Prozent zusammen hat."
Studienergebnisse werden nicht völlig überraschend sein
Lange soll es aber nicht mehr dauern, verspricht Hoelscher. Schon sehr früh gingen er und seine Kollegen davon aus, dass sich die Zahl der Infizierten in einem niedrigen, einstelligen Prozentbereich bewegt. Die Studienergebnisse gehen in genau diese Richtung, erklärt Michael Hölscher:
"Wir hätten damit an die Öffentlichkeit gehen können, wenn es eine große Neuigkeit gewesen wäre, wenn sich die politischen Maßnahmen entscheidend verändert hätten. Wir haben uns dafür entschieden zu warten, bis wir alle Daten komplett haben, komplett analysiert haben, um dem wissenschaftlichen Anspruch Genüge zu tun."
Studien-Ergebnisse müssen der Fachkritik standhalten können
Kritik wie an der sogenannten Heinsberg-Studie aus Nordrhein-Westfalen, die schon Anfang Mai unter großem Medienecho an die Öffentlichkeit ging, können Hoelscher und Kollegen sich so ersparen. Denn selten war die Wissenschaft so unter Beobachtung wie jetzt. Während manche Forscher schnell publizieren, weil die Informationen gerade enorm wichtig sind, möchten andere sich mehr Zeit lassen, um weiter zu prüfen. Beides ist wichtig. Denn alle Studien zusammen bieten uns einen immer genaueren Blick auf die aktuelle Pandemie.
Bayerns Wissenschaftsminister Bernd Sibler sieht das ähnlich:
"Wir haben eben früher einzelne Wissenschaftler schon erlebt, die zu früh Zwischenergebnisse als Endergebnisse ausgegeben haben, die Schiffbruch erlitten haben. Deshalb glaube ich, ist es wirklich besser, wenn wir uns mehr Zeit nehmen, und wirklich eine solide Basis haben, weil wir nur dann auch das Vertrauen der Bevölkerung in Politik und v.a. auch Wissenschaft halten können."
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