Die Zahlen der SARS-CoV-2-Neuinfektionen in Bayern und Deutschland steigen wieder an - wenn auch auf relativ niedrigem Niveau - und mit ihr die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz. Parallel dazu lässt das Tempo beim Impfen nach, die Deutschen werden impfmüde. Ist das der Beginn der vierten Welle? Und können wir sie noch aufhalten? Oder werden damit nur Ängste geschürt?
Dritte Welle erst vorbei
Gerade erst durften wir uns über niedrige Inzidenzen freuen, weniger Corona-Regeln und ein bisschen den Sommer genießen. Noch vor rund einer Woche lag die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz im einstelligen Bereich, viele Corona-Maßnahmen zur Eindämmung des Virus wurden zurückgenommen.
Mit Hilfe der drei Gs - geimpft, getestet, genesen - kehrte Normalität in den Alltag zurück. Und das, obwohl die dritte Welle uns länger als vor etwa einem Jahr die erste in Atem hielt.
Zahl der Neuinfektionen steigt - wegen Delta
Schon liest man hier und da von einer drohenden vierten Welle - vor allem wegen der Delta-Variante. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) wurde sie mittlerweile in drei Viertel der untersuchten Proben nachgewiesen - mit Blick auf die Woche bis zum 4. Juli. Seit Ende Juni ist sie nun vorherrschend in Deutschland.
Inzwischen ist die Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland wieder zweistellig (10,9 mit Stand vom 20.7.2021), doch seit Tagen nimmt sie langsam zu. In den Wochen zuvor stieg der Anteil der Delta-Variante an den SARS-CoV-2-Neuinfektionen kontinuierlich an: von erst 18, auf 39, dann auf 60 Prozent. Jetzt sind es 74 Prozent.
Delta vorherrschende Variante in Deutschland
Die Delta-Variante verdrängt also nach und nach die Alpha-Variante. Deren Anteil liegt mittlerweile bei nur noch bei 22 Prozent. Die anderen Varianten spielen in Deutschland weiterhin eine eher untergeordnete Rolle. Bei jeder zehnten untersuchten positiven Probe lässt sich die Delta-Variante mit Urlaubsreisen in Verbindung bringen - von Rückkehrenden aus Spanien oder Portugal. Dieser Anteil hat sich jedoch im Vergleich zum vorherigen Zeitraum nicht erhöht.
Delta ist ansteckender als Alpha
Das Problem mit Delta: die wahrscheinlich wesentlich höhere Reproduktionszahl. Der sogenannte R-Wert gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter rein rechnerisch im Schnitt ansteckt. Für die Delta-Variante schätzen Experten ihn seit der Woche vom 7. bis 13. Juni auf 20 bis 100 Prozent höher als für die Alpha-Variante.
Laut britischen Angaben ist Delta bis zu 60 Prozent ansteckender. Auch in anderen Ländern wie Großbritannien, Spanien oder Israel steigen die Zahlen der Neuinfektionen rasant an - zurückzuführen auf die Delta-Variante. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass sich Delta in ganz Europa durchsetzen wird.
Nicht nur Zahl der Neuinfektionen wichtig
Bewegen wir uns damit auf eine vierte Welle zu? Denn laut einer Studie der Universität Oxford ist das Risiko, sich mit der Delta-Variante anzustecken, im Sommer deutlich geringer als im Winter. Und wenn die Zahlen jetzt schon steigen…
Mittlerweile reicht es nicht mehr, nur auf die Zahl der Neuinfektionen zu schauen. Zwar mag Delta ansteckender sein, aber die zugelassenen Impfstoffe - wenn sie auch nicht jede Infektion verhindern - schützen vor schweren Verläufen. Daher ist es wichtig, auch die Zahl der Menschen auf Intensivstationen nicht aus den Augen zu verlieren. Doch mit einem exponentiellen Anstieg der Zahlen werden auch die Menschen mit schweren Verläufen zunehmen.
"Vollständig impfen, Abstand, testen, Maske tragen. Diese Maßnahmen schützen uns alle. Wir haben es wirklich selbst in der Hand, ob und wie sich eine vierte Welle entwickeln kann." Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi)
Infektiologe Bernd Salzberger vom Uniklinikum Regensburg erklärt, warum die vierte Welle - von der er ausgeht, dass sie kommt - trotzdem anders sein wird: Denn viele der Risikopatienten, also die, die einen schweren Verlauf durchmachen würden, sind schon geimpft. Das entlastet die Krankenhäuser, weniger Menschen landen auf den Intensivstationen. Weniger Menschen sterben - so die Theorie.
Vierte Welle mit Impfen aufhalten
Das wichtigste Mittel gegen eine mögliche vierte Welle: doppelt impfen. Und zwar möglichst schnell. Denn die Anzahl der wöchentlichen Impfungen in Deutschland nimmt derzeit ab. Im Juni waren es noch oft durchschnittlich 800.000 Impfungen täglich, mittlerweile sind es 600.000.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Etwa 60 Prozent der Deutschen haben eine erste Impfung bekommen, circa 45 Prozent haben den doppelten Impfschutz. Das reicht noch nicht, um uns vor einer vierten Welle zu schützen. Und gerade gegen Delta ist es wichtig, dass die Bevölkerung den vollen Impfschutz hat, damit die Impfstoffe auch wirken.
Können wir noch Herdenimmunität erreichen?
Immer wieder wird der Begriff Herdenimmunität ins Spiel gebracht. Bei der Wild-Variante vor einem Jahr ging man von 70 Prozent der Bevölkerung aus, die entweder geimpft oder eine Infektion durchgemacht haben musste, um die Pandemie einzudämmen. Durch Delta muss der Wert nach oben korrigiert werden - oftmals wird jetzt von 80 Prozent oder mehr gesprochen. Ob Herdenimmunität jemals zu erreichen ist, wird schon diskutiert - gerade im Hinblick darauf, dass Kinder unter 12 Jahren nicht geimpft werden können. Sie machen aber einen Bevölkerungsanteil von etwa zehn Prozent aus. Daher müssten sich in den anderen Bevölkerungsgruppen weit mehr als 80 Prozent impfen lassen, um auf insgesamt mindestens 80 Prozent kommen zu können.
Wie die vierte Welle verhindert werden kann
Laut Schätzungen des RKI müssten mindestens 85 Prozent der 12- bis 59-Jährigen und 90 Prozent der Senioren ab 60 Jahren vollständig geimpft sein. "Bei rechtzeitigem Erreichen dieser Impfquote scheint eine ausgeprägte vierte Welle im kommenden Herbst/Winter unwahrscheinlich", heißt es in einem Papier von Anfang Juli.
Unterschied zu den bisherigen Wellen
Der Unterschied zu den bisherigen Wellen dürfte vor allem darin liegen, dass Kinder sich vermehrt infizieren werden - im Vergleich zur ersten und zweiten Welle. Davon geht Infektiologe Salzberger aus. Erkranken werden sie trotzdem selten, aber da Delta ansteckender ist, setzen sich auch die Eltern einem erhöhten Risiko aus. Daher muss das Tempo beim Impfen weiter hoch bleiben.
Infektionen unter jungen Menschen
Mathematiker Tim Conrad vom Berliner Zuse-Institut und sein Team haben berechnet, dass es vor allem zur Verlangsamung der vierten Welle helfen würde, Jugendliche vermehrt zu impfen. Dann werde man "die Welle noch viel stärker abflachen und noch viel stärker verzögern, weil natürlich in der Schule sich das Ganze ja nicht ausbreiten kann." Denn Jugendliche haben viel mehr soziale Kontakte als andere Altersgruppen.
Gerade jetzt im Sommer kann das gefährlich werden - durch das Reisen, aber auch Superspreading-Events wie die Fußball-Europameisterschaft, die in ganz Europa für einen Anstieg der Infektionen gesorgt hat.
Die zweite Corona-Welle
Ende Sommer 2020 begann die zweite Welle mit einem exponentiellen Anstieg der Neuinfektionen im September - doch bereits im Juli stiegen die Zahlen langsam an. Das lag vor allem an Reiserückkehrern. Der Unterschied zur ersten Welle lag vor allem darin, dass sich das Virus erstmals flächendeckend ausbreiten konnte. Die Altersverteilung war eine andere, nun steckten sich auch Jüngere an.
In der ersten Welle im Frühjahr 2020 waren vor allem einzelne Einrichtungen wie Alten- und Pflegeheime oder Schlachthöfe betroffen. Zwar wurde in der zweiten Welle auch erstmals sehr viel stärker getestet - mit PCR-Tests - als Maßnahme kam aber nur ein Lockdown in Frage. Zuerst der Lockdown Light ab November, dann der strikte Lockdown ab Dezember.
Die dritte Corona-Welle
Im Januar und Februar 2021 sanken dann die Zahlen der Neuinfizierten mit dem Coronavirus und ebenso die der Menschen auf den Intensivstationen, die zuvor ihren Höhepunkt seit Beginn der Pandemie erreicht hatten. War die zweite Welle überwunden? Bis dahin war der Wildtyp vorherrschend, doch dann kam Alpha aus Großbritannien und wir befanden uns ab März in der dritten Welle - nachdem schon breit über Öffnungen und Lockerungen diskutiert wurde.
Zwar gab es mittlerweile die ersten zugelassenen Impfstoffe, doch waren die Mengen nicht ausreichend, um schnellstmöglich alle zu impfen - vor allem die Risikogruppen. Doch mit der Zeit machten es Schnelltests auch für den Heimgebrauch möglich, Infizierte ausfindig zu machen. Die Impfstoff-Hersteller lieferten nach und nach mehr Impfstoffe und es wurde wärmer, das Leben fand vermehrt draußen statt.
Nicht ob, sondern wann
Jetzt - im Sommer 2021 - ist die Ausgangslage eigentlich gut: Wir haben genug Tests und genug Impfstoff. Mit niederschwelligen Angeboten und Impf-Anreizen soll gegen die Impfmüdigkeit angekämpft werden. Unser Wissen über das Coronavirus ist gewachsen. Wir setzen uns mit Mutationen auseinander und beachten weiterhin die Abstands- und Hygieneregeln. Es bleibt abzuwarten, wie sich Großevents, Reiserückkehrer und die Verbreitung der Delta-Variante verhalten werden.
Experten glauben nicht, dass es eine Frage ist, ob es eine vierte Welle geben wird, sondern wann. Das haben wir nach den Worten von Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek selbst in der Hand und mittlerweile genügend Mittel, eine vierte Welle möglichst klein zu halten.
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