Verlässliche Prognosen zur Corona-Pandemie abzugeben – keine leichte Aufgabe. So schlugen sich Experten Mitte letzten Jahres mit der Frage herum, ob und wann eine zweite Corona-Welle drohe; Berechnungen wurden angestellt, Modelle nachjustiert. Mittlerweile ist das Jahr 2021 angebrochen und aus der Frage nach der zweiten ist die nach der dritten Welle geworden.
Inzidenz: Bayern steuert auf 100er-Grenze zu
Schien im Februar die Lage noch erfreulich zu sein, kratzt die 7-Tages-Inzidenz Mitte März in Bayern schon wieder an der kritischen 100er-Grenze. Bei der Bekämpfung des Virus gibt es Probleme allenthalben: der Stopp des Astrazeneca-Impfstoffs, zu unflexible Impfpriorisierungen, die schwerfällige Umstellung auf eine Software zur Kontaktnachverfolgung. Ganz abgesehen davon, dass es nur unzureichend Schnelltests für alle gibt. Trotz alledem: Die Politik sah zuletzt stufenweise Corona-Lockerungen als notwendig an.
- Zum Artikel "Welche Corona-Regeln aktuell in Bayern gelten"
Wissenschaftler befürchten vierte oder fünfte Welle
Wie sieht die Wissenschaft die Lage? Hier spricht man teils nicht nur von der dritten, sondern sogar schon von der vierten oder fünften Welle. Der Infektiologe Clemens Wendtner von der München Klinik Schwabing jedenfalls geht davon aus, dass wir uns an den Gedanken weiterer Infektionsanstiege gewöhnen müssen – zumindest, solange noch keine Durchimpfung der Bevölkerung bestehe. Er plädiert dafür, quasi im Akkord zu impfen.
Über 100.000 Todesfälle bis Ende September möglich
Auch Thorsten Lehr, Professor für Klinische Pharmazie an der Universität des Saarlandes, rechnet mit einem "deutlichem Anstieg" bei den geplanten Lockerungen im März. Er kommt bei seinen Berechnungen auf rund 108.000 Corona-Todesfälle bis Ende September, sollte es bei dem aktuellen Tempo der Impfkampagne bleiben.
Das lässt sich vor allem auf die zuerst in Großbritannien, Südafrika und Brasilien verbreiteten Corona-Mutationen zurückführen. Denn diese drei Varianten gehen laut Robert-Koch-Institut mit einer höheren Übertragbarkeit einher. Darüber hinaus zeigen erste Studien, dass der Schutz durch Antikörper bei den Varianten aus Südafrika und Brasilien wohl verringert ist; eine Impfung oder eine bereits ausgeheilte Corona-Erkrankung könnten gegen sie also nicht ganz immun machen.
Nachgewiesene Mutationen haben sich vervierfacht
Die Virus-Varianten sind längst auch in Bayern angekommen. Professor Jürgen Durner, Facharzt für Labormedizin und Chief Medical Officer im Labor Becker & Kollegen, hat PCR-Proben im süddeutschen Raum ausgewertet. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass sich die nachgewiesenen Mutationen in den vergangenen vier Wochen mehr als vervierfacht haben:
"Wir hatten eine Erhebung mit unseren positiven Proben durchgeführt und fanden heraus: Im Wochendurchschnitt der Kalenderwoche drei waren es rund 6 Prozent, Kalenderwoche vier waren es 7 Prozent, Kalenderwoche fünf sind es 16 Prozent und jetzt sind wir bei 25 Prozent." Professor Jürgen Durner, Becker & Kollegen am 17. Februar 2021
In Kalenderwoche zehn liegt der Anteil mittlerweile bei 78,4%. In Bayern wird noch überwiegend die Mutante aus Großbritannien nachgewiesen, in Tirol jedoch ist eher die südafrikanische Variante dominant. Ein Grund dafür, warum Professor Jürgen Durner das Infektionsgeschehen in den Grenzregionen als kritisch ansieht: Die Viren seien überwiegend durch Reisetätigkeit nach Bayern gekommen. Entsprechend zöge man mit den Abriegelungen die logische Konsequenz.
Mögliche Strategien: Weniger Mobilität, mehr testen
Ein Bericht des Statistischen Bundesamts macht nun klar, dass Mobilität nicht unbedingt von politischen Maßnahmen abhängt. Trotz Lockerungen sei die Mobilität im März nur unwesentlich gestiegen, so der Tenor. Dieser Aspekt scheint vielmehr vom Wetter beeinflusst zu werden. Mobilität hat einen starken Einfluss auf das Pandemie-Geschehen, weil sich die Leute dann von A nach B bewegen und dort dann Kontakte haben. Man kann also die Kontakte einschränken, indem man die Mobilität einschränkt. Aber nur abschotten, das funktioniere nie, sagt Dirk Brockmann, Professor am Institut für Biologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Er tritt für die No-Covid-Strategie ein und spricht sich besonders für mehr Tests aus:
"Mehr Testen, das wird einen enormen Effekt haben. Davon gehe ich aus. Testen ist eine 'Impfung', die nur eine Woche anhält, oder zwei. Wenn man jemanden positiv getestet hat, kann er sofort zu Hause bleiben. Und das macht einen enormen Unterschied." Professor Dirk Brockmann, HU Berlin
Dritte Welle: nicht unwahrscheinlich
Aber kommt nun die dritte Welle? Dirk Brockmann, der die Modellierung der Ausbreitung und Dynamik von Infektionskrankheiten für das Robert-Koch-Institut untersucht, sieht das als nicht unwahrscheinliches Szenario. Dennoch könne man verlässliche Langzeitprognosen nur dann wagen, wenn die Epidemie keine starken Auswirkungen auf die Verhaltensweisen der Menschen habe:
"Bei einer Pandemie aber ist es so, dass wir permanent massiv in die Ansteckungsdynamik eingreifen. Und solche Systeme sind dynamisch extrem schwer zu verstehen. Das ist fast ein bisschen, wie Aktienkurse vorherzusagen." Professor Dirk Brockmann, HU Berlin
Fazit: Prognosen sind schwierig
Die Infektionen mit den neuen Mutationen steigen in Bayern – und zwar im Schatten der ausklingenden zweiten Welle. Ob das definitiv zu einer dritten Welle führen wird, ist nicht klar, aber auch nicht unwahrscheinlich. Darüber hinaus gibt es Faktoren, die nur schwer in die Prognosen miteinzubeziehen sind: das sich stets verändernde Verhalten der Menschen, also Mobilität und Kontakte, und die steigenden Temperaturen.
Und so bleibt am Ende nur ein vielzitierter Satz, der meist Karl Valentin zugeschrieben wird: Prognosen sind schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen.
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