Beim Jahreskongress des Bundesverbands Legasthenie und Dyskalkulie (BLV), der vom 8. bis 10. März 2024 in Würzburg stattfindet, geht es um viele Aspekte der Dyskalkulie: Der BLV fordert, dass eine Rechenschwäche im schulischen Bereich anerkannt und unterstützt wird - ähnlich wie es bei Lese- und Rechtschreibproblemen geschieht. Prüfungszeiten sollten für betroffene Schülerinnen und Schüler verlängert werden und Notenaussetzungen im Fach Mathematik möglich sein. Außerdem setzt sich der BLV dafür ein, Kinder mit Rechenschwäche frühzeitig und umfassend zu fördern. Wissenschaftliche Erkenntnisse sollten stärker in politische Entscheidungen und pädagogische Maßnahmen einfließen. Etwa 100.000 Schülerinnen und Schüler sind in Bayern von einer Rechenschwäche betroffen.
Häufig kein Notenschutz und Nachteilsausgleich
💬 Mitdiskutieren lohnt sich: Die folgende Passage hat die Redaktion im Rahmen des BR24-Formats "Dein Argument" ergänzt. Hintergrund ist ein Kommentar des Users "KarlSchn", welche Bundesländer Regelungen zum Nachteilsausgleich in Schulen haben.
Bislang gibt es im Freistaat für Kinder mit Dyskalkulie noch keinen sogenannten Nachteilsausgleich oder den Notenschutz, bei dem auf eine prüfungsrelevante Leistung verzichtet wird. Damit ist Bayern jedoch nicht das einzige Bundesland, wie der BLV auf Nachfrage mitteilt. Viele Länder täten sich diesbezüglich schwer, etwa NRW. Häufig gebe es auch nur Regelungen für Grundschulen, nicht aber für weiterführende Schulen. Von den Landesregierungen hieß es zum Notenschutz immer wieder, dass sich etwa im Vergleich zu einer Lese-Rechtschreib-Schwäche die Dyskalkulie auf das "Fundament des Faches Mathematik als Ganzes" auswirke und so das Wissen nicht etwa durch eine mündliche Prüfung abgefragt werden könne.
Der Bundesverband macht sich jedoch für einen Nachteilsausgleich stark. Dieser wird etwa in Berlin gewährt. Mehr Zeit oder der Einsatz von Taschenrechnern und Formelsammlungen könne helfen. 💬
Dyskalkulie ist schlimmer als eine Lese- oder Rechtschreibschwäche
"Dyskalkulie ist schlimmer als eine Lese- oder Rechtschreibschwäche", sagt die Züricher Neurobiologin Karin Kucian. Denn: Mathematik und Zahlen sind allgegenwärtig. Egal, ob wir einen Fahrplan verstehen wollen, beim Einkaufen bezahlen müssen oder die Uhr lesen - immer geht es um Zahlen, Mengen oder zeitliche Abläufe. Wem sich das nicht erschließt, der bekommt Probleme im Alltag, in der Schule und wird immer noch ausgegrenzt.
Die 18-jährige Schülerin Elena berichtet von ihren Erfahrungen: "Meine Lehrerin hat mich immer nach vorne geholt, weil sie dachte, es würde mir helfen, vor der Klasse zu rechnen, aber das hat es nur schlimmer gemacht. Die ganze Klasse hat sich über mich lustig gemacht. Ich bekam Schulangst, Prüfungsangst, Panikattacken und war gestresst von diesem einen Thema."
Eine Rechenschwäche zeigt sich im Gehirn
Der Umgang mit Zahlen und Mengen spielt sich vor allem im hinteren Teil des Gehirns ab - im Scheitellappen, lateinisch interparietaler Sulcus. Wer an Dyskalkulie leidet, bei dem zeigt sich in bildgebenden Verfahren, dass sich dort weniger abspielt als bei anderen. Das Scheitelhirn springt bei einer Rechenaufgabe kaum an. Dafür aber andere Regionen des Gehirns, die eigentlich eher unterstützende Funktionen haben. Sie sind im vorderen Teil des Gehirns angesiedelt und steuern etwa Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis oder Planungsprozesse.
"Dyskalkuliker brauchen viel mehr von diesen zusätzlichen unterstützenden Funktionen, um eine einfache Aufgabe lösen zu können, als normal rechnende Kinder, Jugendliche oder Erwachsene", erklärt Karin Kucian. Das erfordert viel Kraft und Anstrengung, weil Hirnbereiche, die gar nicht primär fürs Rechnen vorgesehen sind, in die Bresche springen. "Mathematik ist für Betroffene wie ein Marathon, also Höchstleistung, und deshalb extrem ermüdend", so die Neurobiologin.
Gehirntraining sollte bei Dyskalkulie früh erfolgen
Die für Mathematik vorgesehene Hirnregion arbeitet nicht so gut und sie hat bei Menschen mit Dyskalkulie auch weniger Volumen, weniger graue Substanz. Außerdem sind die Hirnregionen, die beim Rechnen zuarbeiten, nicht so gut miteinander verknüpft. Das lässt sich aber mit Training verbessern.
Kucian und ihr Team haben sich einige Vorschulkinder herausgepickt, die sich beim Zählen schwertaten und kleine Mengen von drei oder vier Teilen nicht sofort benennen konnten. Mit ihnen erfolgte noch vor Schuleintritt eine Mathe-Förderung. "Die Ergebnisse waren vielversprechend", sagt die Neurobiologin: "Sie konnten im Mathematikunterricht gut folgen. Wir haben sie bis zur dritten Klasse begleitet." Das Gehirn ist kein starres System, sondern es passt sich an Gegebenheiten an. Besonders gut gelingt die Stimulation bei Kindern mit Dyskalkulie, die einen hohen IQ haben. Sie profitieren am meisten von unterstützenden Maßnahmen im Bereich Mathematik.
Neuronen im Gehirn können zählen
Von Babys weiß man, dass sie Mengen miteinander vergleichen können. Sie können bis zu vier oder fünf Objekte erfassen, ohne sie abzuzählen. Diese Fähigkeit scheint angeboren zu sein. Bei Zahlen bis etwa fünf gibt es im Gehirn Neuronen, die anspringen. Erscheinen beispielsweise zwei Gegenstände oder die Zahl 2, feuert das entsprechende Neuron. Bei drei Punkten oder drei Tönen feuert ein anderes Neuron.
Bei Menschen mit Dyskalkulie funktioniert das nur ansatzweise oder gar nicht. Karin Kucian: "Sie haben deshalb keine klare Vorstellung von Zahlen, keine klare Zahlen-Repräsentation, auch nicht neuronal. Und das macht es dann auch so schwierig, das Ganze überhaupt zu verstehen und zu lernen. Denn etwas zu lernen, das im eigenen Erleben keinen Sinn ergibt, wird sofort wieder vergessen."
Dyskalkulie ist mitunter erblich
Kinder, die sich mit Mathe schwertun, haben oft schon einen Elternteil, bei dem es auch so war. Aus genetischen Studien weiß man, dass eine Anlage zur Dyskalkulie vererbt werden kann. Das bedeutet aber nicht, dass das Kind zwangsläufig große Probleme haben muss. Wichtig ist auch, wie es aufwächst, ob in jungen Jahren schon das mathematische Denken angeregt und die Hirnentwicklung gefördert wird.
Mit entsprechender Diagnose, die in einer Praxis für Kinderpsychiatrie erfolgt, können Kinder auch an einer Dyskalkulie-Therapie teilnehmen, die allerdings teuer ist. Jugendämter übernehmen die Kosten nur in seltenen Fällen. Meist müssen Eltern die Maßnahme bezahlen, die in der Regel über ein Jahr läuft. "Es gibt durch die Therapie gute Möglichkeiten, den Kindern Strategien an die Hand zu geben, auch Abläufe im Langzeitgedächtnis abzuspeichern, und das funktioniert", sagt die Dyskalkulie-Therapeutin Susanne Kraut aus Alzenau. "Irgendwann fällt der Groschen und dann läuft es." Auch Computer-Lernprogramme können dazu beitragen, das mathematische Denken Schritt für Schritt zu fördern. Aber grundsätzlich ist eine Dyskalkulie nicht heilbar.
Angst vor Mathematik entgegentreten
Eine begleitende Psychotherapie kann helfen, Versagensängste im mathematischen Bereich abzubauen. Karin Kucian erlebt mit Schülerinnen und Schülern, dass sie ohne Therapie erst mal nur Misserfolge einfahren. "Es fließen so viele Tränen. Es kann zur Schulverweigerung bis hin zum Suizid gehen."
Dem Mathe-Frust müsse man frühzeitig entgegenarbeiten, sagt auch der Psychiater Gerd Schulte-Körne von der LMU München: "Es ist eine dringende Forderung, dass die Kinder mehr untersucht werden, dass man das Problem ernst nimmt und nicht als etwas Vorübergehendes abtut. Denn die Menschen, die eine Rechenstörung haben, leiden meist ein Leben lang darunter. Die gesellschaftlichen Folgen sind immens."
Im Video: Dyskalkulie - Rätselhafte Zahlen
Video: "Dyskalkulie als Krankheit anerkennen"
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