Magersucht - typisch Frau? Was als Mädchenkrankheit gilt, kann ebenso Männer treffen. Schlankheitswahn und Körperkult können auch sie in die Magersucht treiben. Zehn Prozent aller Betroffenen sind männlich. Bislang ist das oft ein gesellschaftliches Tabu und macht es für die Kranken besonders schwierig. Die Betroffenen fühlen oft eine doppelte Stigmatisierung: Sie leiden an einer psychosomatischen Erkrankung und obendrein an einer Frauenkrankheit. Das führt dazu, dass die Krankheit leichter übersehen wird und die Dunkelziffer dementsprechend hoch ist.
"Die Essstörung ist mein bester Freund"
Der 15-jährige Tim aus Bayern war früher zu dick, dann hungert er sich ins Untergewicht. Er verbringt Monate in einer Klinik am Chiemsee. Sie ist spezialisiert auf Essstörungen. Etwa zehn Prozent der Patienten sind männlich. In verschiedenen Therapien soll Tim lernen, wieder selbstständig zu essen. Er muss 15 Kilogramm zunehmen.
"Ich habe für die meisten Lebensmittel die Kalorien im Kopf. Bevor ich etwas gegessen habe, habe ich es immer zuerst ausgerechnet. Deshalb fällt mir das Essen zum Teil schwer. Es ist schon Ekel damit verbunden. Nicht so sehr wegen des Geschmacks, sondern wegen der Kalorien im Hinterkopf." Tim
Tim schafft es, durch die stationäre Therapie wieder zuzunehmen und darf nach Hause. Er möchte endlich wieder zur Schule gehen. Doch zu Hause fällt es ihm sehr schwer, sein Gewicht zu halten. Er nimmt wieder rasant ab.
"Als wüsste ich gar nicht mehr, wer ich bin ohne Essstörung. Das ist schwierig. Ich habe da Verlustängste. Das ist, wie wenn man einen Menschen verliert." Tim
Ursachen für Magersucht sind vielschichtig und individuell
Essstörungen nehmen in Deutschland zu und die Betroffenen werden immer jünger: Bei jedem Fünften aller 11- bis 17-Jährigen in Deutschland liegt ein Verdacht auf eine Essstörung vor. Die Gründe dafür sind vielfältig und individuell. Meist ist das Abmagern nur das, was sichtbar ist. Die eigentliche Ursache liegt viel tiefer.
Doch auch gesellschaftliche Idealvorstellungen haben einen enormen Einfluss. So stellte man beispielsweise in einem Experiment fest, dass Jugendliche, die fünf Monate lang regelmäßig Modezeitschriften konsumierten, mit ihrem Körper unzufrieden wurden. Auch soziale Netzwerke mit ihren bearbeiteten, geschönten Fotos können einen negativen Einfluss haben. Aber: Der Schönheits- und Schlankheitswahn ist meist nicht der Kern der Essstörungen.
"Magersüchtige oder bulimische Jugendliche schaffen sich mit ihrer Essstörung ein autonomes Reservat, in dem sie nach eigenen Gesetzen leben können." Psychotherapeutin und Ärztin Dr. Monika Gerlinghoff, arbeitet seit Jahren mit Betroffenen
Hohe Sterblichkeitsrate bei Magersucht
Mindestens 150.000 Menschen sind in Deutschland an Magersucht erkrankt. Nur ein Teil kommt dauerhaft von der Krankheit los. Von allen psychischen Erkrankungen hat Magersucht die höchste Sterblichkeitsrate. Etwa jeder zehnte Patient stirbt an Magersucht.
Magersucht als Frauenkrankheit abgestempelt
Viele der betroffenen jungen Männer verbergen die Krankheit oft vor Freunden und Familie. Das hat zur Folge, dass sie sich erst sehr spät Hilfe suchen. Zudem werden Essstörungen bei Männern überhaupt nicht erkannt; weil auch viele Ärzte nicht damit rechnen, und weil viele Männer sich nur äußerst ungern eine psychische Erkrankung eingestehen.
Auch der 27-jährige Raimund ist krank. Er leidet schon sein halbes Leben an Magersucht. Als er 13 Jahre alt ist, sieht er eine Werbung mit herausstehenden Wangenknochen - so möchte er auch aussehen. Es folgt ein jahrelanger Kampf mit sich selbst - mit guten und schlechten Phasen. Raimund fällt es schwer, Hilfe anzunehmen, seine Krankheit war jahrelang sein Geheimnis.
"Ich habe erst vor einem Jahr angefangen, es im Freundeskreis nach und nach zu erzählen. Am Anfang kam Unverständnis: ‚Das können doch Männer gar nicht haben!‘ Ich glaube, aus dem Grund verheimlichen es Männer, weil die Umgebung sonst sagt, der hat was, der ist krank, der ist nicht ganz koscher." Raimund
Raimund will einen Neuanfang, hat sich eine eigene Wohnung gesucht und wird wieder studieren. Doch das geht nur, wenn er seine Magersucht im Griff hat. Noch weiß er nicht, ob er es schafft.
"Auf Messers Schneide bin ich da. Es kann in die Hose gehen. Und dass ich da noch mit aufpassen muss." Raimund