Klaus Stöhr ist ein Wissenschaftler, der polarisiert, und gerade passiert das wieder. In einem Interview mit dem Fernsehsender Phoenix erklärt der Epidemiologe und Veterinärmediziner, der auch schon für die Weltgesundheitsorganisation gearbeitet hat, dass die Herdenimmunität bei "Corona nicht passieren" werde.
Auf Twitter gibt es gespaltene Reaktionen auf das Interview, unter anderem mit der Frage, ob das nicht eine Verschwörungstheorie sei. Warum Klaus Stöhr Recht mit seiner Aussage hat und warum hohe Impfquoten trotzdem wichtig sind, erklärt dieser #Faktenfuchs.
Der Begriff Herdenimmunität bzw. Gemeinschaftsschutz
Bei einem Infektionsgeschehen wird zwischen individuellem Schutz und Gemeinschaftsschutz unterschieden. Dieser Schutz einer Gruppe wird auch Herdenimmunität genannt. Bei individuellem Schutz vor einer Infektion schützt man sich selbst, indem man sich selbst nicht mehr ansteckt oder nur sehr mild erkrankt.
Die Herdenimmunität schützt auch die Menschen im näheren Umfeld, so erklärt das zum Beispiel der "Verband Forschender Arzneimittelhersteller" auf seiner Homepage: "Sie wird erzielt, wenn so viele in der Gruppe durch Impfung (oder frühere Erkrankung) immun gegen die Krankheit geworden sind, dass jede Infektionskette schnell wieder abbricht. So kann sich die Krankheit nicht weiter ausbreiten und auch Nicht-Geimpfte sind geschützt."
Wichtig hier: Immune Personen können sich also nicht mehr selbst anstecken und so das Virus auch nicht weitergeben.
Herdenimmunität hängt von vielen Faktoren ab
Wie wirksam die Impfstoffe gegen Ansteckung sind, ist mit der wichtigste Faktor für die Herdenimmunität. Wenn ein Impfstoff diese Anforderung erfüllt, entsteht eine "sterile Immunität", sagt Dr. Christoph Spinner, Infektiologe und Pandemie-Beauftragter im Klinikum rechts der Isar der TU München im BR-Interview. Das ist zum Beispiel beim Masern-Impfstoff der Fall. Laut Robert Koch-Institut (RKI) schützt er zu 98 bis 99 Prozent vor einer Infektion. Übrigens entsteht auch dann eine "sterile Immunität", wenn man die Masern durchgemacht hat. Danach kann man nicht mehr erkranken.
Für die bislang verwendeten Impfstoffe gegen den SARS-CoV-2-Erreger treffe das aber nicht zu, so Spinner. Es gebe im Moment sogar die Diskussion, ob nach einer Ansteckung "Geimpfte vielleicht zumindest in den ersten Tagen genauso infektiös sind wie Ungeimpfte."
Grundsätzlich sei es aber nicht verwunderlich, dass die zugelassenen Corona-Impfstoffe keine "sterile Immunität" hervorriefen - und dass sie nicht zu "100 Prozent schützen" sei schon lange bekannt, sagt Spinner. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hatte im Jahr 2020 das Ziel für die Impfstoffentwicklung ausgerufen, mit dem Fokus, dass zunächst schwere Verläufe und damit Todesfälle verhindert werden sollen. Das Ziel: der individuelle Schutz. Dieses Ziel erfüllen die Impfstoffe zuverlässig, wie das Robert Koch-Institut auf seiner Webseite detailliert aufführt.
Impfstoffe schützen am besten vor einem schweren Verlauf
Der Astrazeneca-Impfstoff verhindere zu 95 Prozent einen schweren Verlauf, der Johnson & Johnson-Impfstoff laut Zulassungsstudien zu 100 Prozent, die mRNA-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna zu 85 Prozent. Im Umkehrschluss bedeutet das aber: Das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf bei vollständig geimpften Personen liegt bei 15 Prozent - falls sie sich anstecken.
Aber der Schutz vor einer Ansteckung trotz vollständiger Impfung ist je nach Impfstoff unterschiedlich:
Der Astrazeneca-Impfstoff senkt laut der Zulassungsstudien die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung um 80 Prozent. Ein Rechenbeispiel dazu vom RKI, in dem aber nicht scharf zwischen Erkrankten, die Symptome zeigen, und Menschen, die sich nur angesteckt haben, unterschieden wird: "Man stelle sich vor, in einer Gegend mit vielen aktiven Covid-19-Fällen treten etwa 20 Fälle je 1.000 Personen auf. Würde in dieser Gegend dann ein Teil der Bevölkerung geimpft werden, würden nachfolgend noch 20 von 1.000 ungeimpften Personen an Covid-19 erkranken, aber nur etwa vier von 1.000 geimpften Personen."
Der Johnson & Johnson-Impfstoff schützt laut RKI schlechter vor einer Ansteckung - nur um 65 Prozent geringer ist das Risiko. In der Beispielrechnung würden sich sieben von 1.000 geimpften Personen anstecken.
Den besten Schutz vor Ansteckung bieten die mRNA-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna, dort ist das Risiko um 95 Prozent gesenkt. Laut Beispielrechnung würde sich hier nur etwa eine Person von 1.000 Geimpften trotzdem anstecken.
All diese Fakten waren seit Herbst 2020 bekannt, als die Zulassungsbehörden die Daten der Pharmakonzerne ausgewertet haben. Hinzu kommt: Diese Daten haben jetzt im August 2021 nur bedingte Aussagekraft - denn die Delta-Variante des SARS-CoV-2-Erregers ist dabei noch nicht einbezogen, weil sie sich erst seit Anfang 2021 durchsetzt.
Delta-Variante könnte Impfwirkung verschlechtern
In Bezug auf die Delta-Variante ist die Situation noch unklar, manche Studien lassen vermuten, dass der Impfschutz vor einer Ansteckung schlechter sei. Bei Biontech/Pfizer gebe es zum Beispiel laut einer Studie aus Katar nur einen 60-prozentigen Schutz. Eine israelische Studie geht sogar nur von 40 Prozent aus. In England dagegen kommen Forscherinnen und Forscher zu dem Schluss, dass Biontech/Pfizer das Risiko um 80 Prozent senkt, sich mit der Delta-Variante anzustecken.
Viele der aktuellen Studien lassen sich schlecht vergleichen, weil nicht immer dieselben Fälle gezählt werden. Bei manchen werden nur symptomatische, positiv-getestete Personen gezählt, bei anderen alle, die einen positiven Corona-Test haben.
Auch Christian Drosten geht darum in einem aktuellen dpa-Interview vom 18.08.2021 davon aus, dass die Impfung aufgrund der Delta-Variante keine primäre Frage des Gemeinschaftsschutzes sei. Es gehe jetzt vielmehr darum, sich selbst zu schützen.
Zwischenfazit: Die Impfstoffe können bei den meisten einen schweren Verlauf verhindern, aber schützen zu einem geringeren Prozentsatz auch vor einer Ansteckung. Die Delta-Variante könnte diesen Anteil stark verringern. Für den Herdenschutz bedeutet das: Eine noch höhere Anzahl an Menschen müsste geimpft oder immun sein, weil sie die Krankheit durchgemacht hat.
Manche entwickeln keinen ausreichenden Impfschutz
Es gibt auch Menschen, die keinen ausreichenden Impfschutz entwickeln, obwohl sie zwei Dosen bekommen haben, sagt Infektiologe Christoph Spinner: "Tatsächlich haben wir diese Personen inzwischen gesehen und sehen sie auch regelhaft noch auf unseren Stationen. Allerdings ist es in allen Fällen so, dass die Impfung nicht ausreichend angeschlagen hat. In der Regel, weil entweder Medikamente zur Schwächung des Immunsystems, z.B. nach Organtransplantation, oder andere Gründe für ungenügendes Impfansprechen vorlagen." Vereinfacht ausgedrückt hätten bei diesen Menschen keine schützenden neutralisierenden Antikörper im Blut gemessen werden können, so Spinner.
Das RKI sammelt die Daten dieser sogenannten "Impfdurchbrüche". Laut dem Bericht vom 18. August wurden seit 1. Februar 2021 13.360 Impfdurchbrüche gezählt, insgesamt gab es im selben Zeitraum 974.341 gemeldete, symptomatische Covid-19-Fälle. Demnach liege der Anteil der Impfdurchbrüche bei der Altersgruppe unter 18 Jahren bei 0,1 Prozent, bei den 18-59-Jährigen bei 1,3 Prozent und bei den 60-Jährigen, oder darüber, bei 2,2 Prozent.
Viele Menschen können gar nicht geimpft werden
Die Impfstoffe sind momentan nur für Personen über zwölf Jahren zugelassen. Das bedeutet: Kinder unter zwölf können sich gar nicht impfen lassen, allein in Deutschland betrifft das mehrere Millionen. Darum rechnet das Robert Koch-Institut auch nur mit den Personen über zwölf Jahren, wenn es seine Prognosen für die Bevölkerungsimmunität herausgibt, die dann entsprechend höher sein müssen, um die Kinder auszugleichen.
Coronaviren verändern sich regelmäßig
Der Epidemiologe Stöhr weist in seinem Interview darauf hin, dass "Atemwegserkrankungen" bekanntermaßen nicht zu einer dauerhaften Immunität führen. Und das "wird bei Corona [auch] nicht passieren". Das liegt daran, dass Coronaviren häufig mutieren.
Spinner sagt, der SARS-CoV-2-Erreger sei relativ stabil für ein Coronavirus, es mutiere nicht so häufig, wie befürchtet. Aber: "Der große Unterschied ist hier vor allem, dass wir im Moment Millionen Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Erreger auf der ganzen Welt sehen, während Masern zwar nicht ausgerottet, aber dennoch sehr viel seltener vorkommen. Alleine aus mathematischen Überlegungen sind damit Mutationen für SARS-Cov-2 sehr viel wahrscheinlicher." Gäbe es weniger Ansteckungen, gäbe es auch weniger Mutationen, die im schlimmsten Fall den Impfschutz und eine lang anhaltende Immunität umgehen könnten.
Coronavirus in der Tierwelt
Ein weiterer Faktor, der die Herdenimmunität bedrohe, sei der Umstand, dass der SARS-CoV-2-Erreger auch in der Tierwelt vorkomme und zwischen Tier und Mensch hin- und herspringen könne, sagt Spinner: "Das spielt eine ganz große Rolle." So bleibe ein Pool für beständige Mutationen. Das Virus könne sich im Tierreich weiter vermehren, selbst wenn es in der menschlichen Bevölkerung seltener würde und es bleibe eine "realistische Möglichkeit", dass das Virus so wieder auf den Menschen zurück übertragen werden könne. Ein Virus, dass ein sogenanntes tierisches Reservoir hat, kann nicht endgültig ausgerottet werden, wie das bei den Pocken der Fall war.
Zwischenfazit: Aus den oben genannten Gründen ist es unwahrscheinlich, dass es eine Herdenimmunität im engeren Sinne bei SARS-CoV-2 geben wird. Auch das RKI nimmt diese Position ein: "Es ist zweifelhaft, ob eine solche Schwelle [die Bevölkerungsimmunität, d.A.] für COVID-19 realistisch ist."
Das bedeute aber nicht, dass die Impfkampagne sinnlos sei. Denn durch eine breite Grundimmunität innerhalb der Bevölkerung könnte auf "individueller Ebene das Auftreten schwerer Erkrankungsfälle deutlich reduziert" werden. Der Eigenschutz steht damit im Vordergrund. Darüber hinaus werde das Virus dann auch seltener weitergegeben, so das RKI. Damit dieser Effekt eintritt, hält das RKI eine "Zielimpfquote … von 85 Prozent für die 12 bis 59-Jährigen sowie von 90 Prozent für Personen ab dem Alter von 60 Jahren für notwendig und auch erreichbar."
Vorwurf des Versagens der Krisenkommunikation
Der Epidemiologe Stöhr sagt in dem Phoenix-Interview, dass Herdenimmunität nicht der einzige Begriff sei, der in der "Krisenkommunikation schlecht oder völlig falsch verwendet wurde."
So einfach könne man sich es nicht machen, sagt Kathrin Westhölter im #Faktenfuchs-Interview. Die Kommunikationswissenschaftlerin ist Expertin für Krisenkommunikation an der Akkon Hochschule in Berlin und hat dort den Masterstudiengang für Krisen-, Konflikt- und Katastrophenkommunikation mit aufgebaut: "Es ist tatsächlich so, dass es die Krisenkommunikation als solche überhaupt gar nicht gibt. Es ist ja nicht so, dass wir als Gesellschaft zentral beschallt werden, also weder von der Politik, noch von einer anderen Instanz." Es sei ein Flickenteppich.
Politiker hätten auch völlig andere Ziele in der Krisenkommunikation als beispielsweise Wirtschaftsunternehmen oder Wissenschaftler, der Wahlkampf verschärfe das Problem noch. Seit dem Beginn der Pandemie "fliegen wir auf Sicht", sagt Westhölter, die Situation der Unsicherheit könne nicht aufgelöst werden, es sei nicht klar, wie lange dieser "Langstreckenlauf" noch andauere und was uns auf der Strecke noch alles erwarte. Für die Krisenkommunikation sei das "undankbar".
Hoffnung und Enttäuschung sichtbar machen
An vielen Stellen sei versucht worden, Hoffnung zu machen und zu zeigen, es gebe ein "Licht am Ende des Tunnels." Das sei vor allem zum Ende des letzten Jahres verbreitet gewesen, so die Kommunikationswissenschaftlerin: "Als es darum ging, die Impfstoffzulassung wird Anfang des Jahres da sein, die Impfstoffe werden dann verfügbar sein. Da hat Angela Merkel gesprochen, da sei Licht am Ende des Tunnels und wir würden dann das Virus schrittweise besiegen." Zugleich sei aber schon damals klar gewesen, dass die Impfstoffe nicht zu 100 Prozent schützten: "Also es ist kein Geheimnis, es ist nichts, das plötzlich hochgekommen ist. Aber es ist natürlich nicht das, was wir uns erhoffen."
In der Krisenkommunikation sei es darum wichtig, zwar Hoffnung zu machen, aber mögliche Enttäuschungen offensiv mit zu kommunizieren. Vor allem, weil die Empfänger derartiger Botschaften aus offiziellen Aussagen oft nur das herauszögen, was ihnen gefalle oder in ihr Wunschbild passe. Menschen seien keine rein verstandesmäßig gesteuerten Wesen, so Westhölter.
Völlig gescheitert sei die Krisenkommunikation in der Pandemie aber nicht, an vielen Stellen sei gut informiert und begleitet worden: "Also wir alle haben jetzt in dieser Pandemie Herrn Drosten kennengelernt, mit seinen Einsichten und seinen Einschätzungen." Schwierig sei es, die Unsicherheit und Vorläufigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse auszuhalten. In der Forschung sei das völlig normal, doch im Alltag sei es ungewohnt, dass sich Erkenntnisse mit der Zeit weiterentwickelten.
Fazit: Die Herdenimmunität gegen den SARS-CoV-2-Erreger wird in Deutschland und dem Rest der Welt nach momentanem Stand kaum zu erreichen sein. Die bisherigen Impfstoffe wirken gut gegen einen schweren Krankheitsverlauf, aber schlechter gegen die Ansteckung. Die ansteckendere Delta-Variante des Virus verschärft diesen Zustand wahrscheinlich.
Nicht alle Menschen können derzeit geimpft werden. Das Virus kann sich unter diesen Umständen nicht "totlaufen".
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