Es ist ein Satz wie ein Paukenschlag: "In zwanzig Jahren hat sich im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in Deutschland praktisch nichts verändert." Die Bildungsforschenden, die in Berlin ihre Forschungsergebnisse der internationalen Grundschulleseuntersuchung (IGLU) zur Lesekompetenz von Viertklässlern vorstellten, hielten mit ihrer Kritik nicht hinter dem Berg. "Positive Befunde aus anderen Staaten zeigen, dass die familiäre Herkunft nicht automatisch Einfluss auf die Lesekompetenz der Schüler haben muss", schreibt Nele McElvany, geschäftsführende Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund und Leiterin der IGLU-Studie 2021, und ihr Team in der Untersuchung.
- Zum Artikel: Wie es um die Lesekompetenz der Grundschüler steht
Lesekompetenz hängt von der sozialen Herkunft ab
Der IGLU-Befund für Deutschland ist eindeutig: Schüler aus sozial privilegierteren Familien besitzen hierzulande einen deutlichen Vorsprung in der Lesekompetenz gegenüber Schülern aus weniger privilegierten Familien.
Eine Tendenz, die zuletzt auch Bildungsexperte Werner Klein, langjähriger Leiter der Abteilung Qualitätssicherung bei der Kultusministerkonferenz in Berlin, in einem Fachbeitrag für das Deutsche Schulportal der Robert-Bosch-Stiftung kritisierte: "Die von allen Ländern und dem Bund postulierte Zielsetzung, für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen, bleibt nach wie vor unerreicht."
Lesefähigkeit verschlechtert sich deutlich
Seit 2001 sei die Lesefähigkeit der Viertklässler hierzulande gesunken, so der zentrale Befund der IGLU-Studie. Ein Negativ-Trend, der sich seit 2011 bereits abzeichnete und der vom IQB-Bildungstrend, der im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, bestätigt wurde. Insbesondere seit der letzten IGLU-Erhebung 2016 ist die Lesekompetenz der deutschen Viertklässler in den vergangenen fünf Jahren noch einmal deutlich gesunken. Konnte 2016 jeder fünfte Viertklässler nicht richtig lesen, ist es heute bereits jeder vierte.
Hinzu kommt, dass die Unterschiede durch substanzielle soziale und migrationsbedingte Ungleichheit im Bildungssystem seit 2001 nicht reduziert worden konnte. Anderen Bildungssystemen sei es im internationalen Vergleich teilweise deutlich besser gelungen, positive Entwicklungen in der Grundschule zu gestalten, so Nele McElvany und ihr Team.
4.600 Schüler in Deutschland an IGLU beteiligt
Seit 20 Jahren erhebt die internationale Grundschulleseuntersuchung (IGLU) im Fünfjahresabstand das Leseverständnis der Schülerinnen und Schüler am Ende der Grundschulzeit. Die Studie ermöglicht Aussagen über Trends im Schulsystem, insbesondere im Hinblick auf die Lesekompetenz, die als entscheidende Grundlage für einen erfolgreichen Bildungsweg gilt.
In der jüngsten Erhebung 2021, mitten in der Pandemie, über die Einstellung zum Lesen und Lesegewohnheiten der Viertklässler nahmen 2021 insgesamt 65 Staaten und Regionen teil. In Deutschland beteiligten sich rund 4.600 Schülerinnen und Schüler.
Defizite durch Corona-Pandemie
Dass die Schulschließungen während der Corona-Pandemie 2021 erhebliche Auswirkungen auf die Leseleistung der Viertklässler haben würden, war erwartbar. Tatsächlich sei die bei IGLU 2021 in Deutschland beobachtete Lesekompetenz aber signifikant niedriger als es ohne COVID-19-Pandemie zu erwarten gewesen wäre, erklärte das Bundesbildungsministerium, das gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz die IGLU-Studie finanziert.
"Es ist alarmierend, wenn ein Viertel unserer Viertklässlerinnen und Viertklässler beim Lesen als leistungsschwach gilt", kommentierte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP).
Zu wenig Lesezeit in der Schule
Die IGLU-Forschenden konnten nachweisen, dass die mangelnde Lesekompetenz der Viertklässler auch im direkten Zusammenhang mit zu wenig Lesezeit und einer zu geringen Nutzung digitaler Medien im Leseunterricht an deutschen Schulen steht. Auch die Ausstattung mit digitalen Medien im Leseunterricht an deutschen Schulen beschreiben die Forschenden als unterdurchschnittlich. "Es gelingt in Deutschland nicht gleichermaßen wie in anderen Staaten und Regionen, vertiefende Leseprozesse mit digitalen Medien zu fördern", schreiben die Autoren der IGLU-Studie.
Eine Erkenntnis, die bereits das Deutsche Schulbarometer im November 2022 zu Tage förderte. Hier bestätigten 78 Prozent der Grundschulleiter, dass sie ihren Schülerinnen und Schüler trotz aller Bemühungen nicht die adäquate Unterstützung beim Lernen bieten können, die sie benötigen.
Mädchen schneiden besser ab
Unterschiede in der Lesekompetenz zeigen sich auch zwischen Mädchen und Jungen: Mädchen lesen seit 2001 durchschnittlich besser und zeigen auch eine größere Motivation zu lesen. Ein Lichtblick: Insgesamt lesen im internationalen Vergleich viele Grundschüler hierzulande auch außerhalb der Schule – was auch damit zu tun haben könnte, dass, anders als im Ausland, für die meisten Viertklässler hierzulande der Unterricht bereits mittags endet. So bleibt noch viel Zeit zum Lesen in der Freizeit. Trotzdem liest mehr als ein Fünftel der Grundschüler in Deutschland nicht oder nur selten zum Vergnügen außerhalb der Schule.
Das Lesen in der Schule macht derweil nur wenigen Schülern Freude - die verwendete Klassenlektüre decke sich kaum mit den Vorlieben der Schülerinnen und Schüler, attestieren die Forscher. Zudem sei die verwendete Lektüre durchschnittlich über 20 Jahre alt und für die Jahrgangsstufe 4 auch relativ kurz. Trotz alledem: Viertklässler sind in Deutschland im Mittel mit ihrer Schule zufriedener als noch vor fünf Jahren und erleben sie als einen mit positiven Emotionen besetzen Ort - wobei Mädchen lieber zur Schule gehen als Jungen.
- Zum Audio: Kommentar zu den Ergebnissen der IGLU-Studie
Entkopplung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft notwendig
Doch was ist zu tun, damit die Lesekompetenz und damit der Schlüssel zu einer gelingenden Bildungslaufbahn erfolgreicher für die deutschen Schüler verlaufen? Die Forderung der IGLU-Bildungsforscher sind eindeutig: Für bessere Ergebnisse und eine Entkopplung von Herkunft und Bildung müsse in Deutschland an den Grundschulen deutlich mehr gelesen werden: "Hierzu gehört auch, die Quantität der in Deutschland mit lesebezogenen Aktivitäten verbrachten wöchentlichen Unterrichtszeit zu erhöhen, die bisher im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich ist", schreiben die Wissenschaftler. Nur so könne die problematische Abhängigkeit des Bildungserfolgs in Deutschland von der sozialen Herkunft der Kinder entkoppelt werden.
Als konkrete Maßnahmen, um dies zu erreichen, empfehlen die Wissenschaftler insgesamt einen qualitativ hochwertigen Leseunterricht, die Leseförderung in homogenen Kleingruppen sowie einer individuellen Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf. Insbesondere der Ausbau der Leseförderung an Ganztagsschulen, die bessere Aus- und Weiterbildung der Grundschullehrkräfte in Sachen Leseförderung und die zielführende Nutzung digitaler Medien bergen Potential für bessere Leseergebnisse an deutschen Schulen.
Nicht zuletzt aber müssten die Familien der Viertklässler mit ins Boot geholt werden, damit man in der kommende IGLU-Studie in fünf Jahren auf eine Trendwende hoffen kann.
Im Audio: Bayerns Kultusminister Michael Piazolo zu den Ergebnissen der IGLU-Bildungsstudie
Im Video: Ergebnisse der Iglu-Studie zur Lesekompetenz von Viertklässlern
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