Fast jeder fünfte Viertklässler kann nicht richtig lesen. Das offenbarte die IGLU Studie 2017. Ein Schock ging damals durchs Bildungsland Deutschland. Im internationalen Vergleich rutschte die Bundesrepublik vom vorderen ins hintere Mittelfeld ab. Und die Erkenntnis reifte, erneut: Wir brauchen mehr Bildungsgerechtigkeit.
Corona-Pandemie verschärft Lesedefizite
Leseprogramme wurden aufgesetzt, Lese-Initiativen ausgebaut, die Kinderbuchautorin Kirsten Boie initiierte eine Petition mit dem Titel "Jedes Kind muss lesen lernen". Inspiriert davon entstand sogar ein nationaler Lesepakt, der von der Öffentlichkeit bislang aber kaum wahrgenommen wird.
Doch dann kam die Corona-Pandemie. Sie hat die Defizite im Lesen, aber auch in anderen Fächern, nochmal deutlich verschärft – und die Schere zwischen guten und schlechten Schülern weiter geöffnet. Und das in einer Zeit, in der viele Lehrkräfte vor allem im Grundschulbereich fehlen. Umso gespannter blicken Schulen, Bildungsexperten und Familien auf die neuen Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung. Die Ergebnisse werden am Dienstag vorgestellt.
Wortschatz geringer beim digitalen Lesen
Die hauptsächlichen Daten dafür wurden 2021 erhoben, also mitten in der Pandemie. Die Studien-Macher verglichen Lesefähigkeiten und das Leseverständnis von Viertklässlern aus bis zu 60 Ländern. Eine Sonderauswertung der aktuellen IGLU-Daten gibt es bereits: Sie zeigt, dass Kinder, die regelmäßig Bücher und somit längere Texte lesen, im Schnitt einen größeren Wortschatz haben als solche, die häufiger an digitalen Geräten eher kürzere Texte lesen. Und der Wortschatz gilt als Schlüssel fürs Lesenlernen.
"Es ist tatsächlich so, dass nicht nur die mit Migrationshintergrund, sondern auch teilweise unsere deutschsprachigen Kinder einen sehr geringen Wortschatz haben. Oft ist es auch so, dass das Wort in einem anderen Umfeld hergenommen wird. Das Wort 'beherrschen' kennen sie, wenn aber gesagt wird 'Du beherrschst das Schwimmen', sind sie raus. Wenn man sagt 'Du kannst schwimmen', ah ja, okay." Grundschul-Lehrerin Ann-Kathrin Gramling
Dabei geht es nicht allen Kindern so. Die Schere geht auseinander. Ulrich Ludewig von der Technischen Universität Dortmund, der auch an der IGLU-Studie beteiligt ist, empfiehlt deshalb, dass man sich mehr auf die Mindeststandards konzentriert. "Man müsste ein System finden, das Kinder, die Probleme beim Lesen haben, identifiziert und ihnen systematisch Unterstützung gibt – und nicht davon ausgeht, dass der Unterricht für alle schon irgendwie reichen muss."
Mit regelmäßigen Tests Entwicklung überprüfen
Damit Lehrkräfte die Kinder, die nicht gut mitkommen, einfacher erkennen, sind Lernverlaufsprogramme wie "Lepion" oder "Quop" sinnvoll. Die Idee: Mit regelmäßigen Tests sehen Lehrkräfte, ob sich die Leistungen der Schüler wie erwartet entwickeln. Und wenn das nicht der Fall ist, können sie gegensteuern. "Quop" etwa ist ein Quiz am Computer: Das komme gut an, sagt eine Lehrerin. "Alles was mit PC zu tun hat ist Motivation alleine", sagt sie.
Eine Hilfe, die Schülerinnen und Schüler gleichermaßen fördert, könnte "Filby" sein. Das ist ein evidenzbasiertes Lesetraining für die zweite, dritte und vierte Klasse von der Universität Regensburg. Die Idee ist, dass Kinder Texte nicht nur lesen, sondern auch hören und selbst vorlesen. Jedes Jahr steht eine andere Methodik im Zentrum. Die Audios gibt es als kostenlosen Download, für Sachtexte und Kinderbücher, etwa Cowboy Claus und sein Schwein Lisa.
KI-basierte Lernprogramme fürs Lesenlernen
Und auch erste Leseprogramme, die auf künstlicher Intelligenz basieren, sind bereits auf dem Markt. Sabine Uehlein von der Stiftung Lesen setzt darin Hoffnung. "So ein Programm kann zum Beispiel überprüfen: Wie schnell liest ein Kind, wie flüssig liest ein Kind, wo macht es Fehler? Und dann kann es individuelle Unterstützungs- und Lernangebote anbieten", sagt sie.
Lernrückstände summieren sich auf
Ob man die Defizite wieder so einfach ausgleichen kann, bezweifelt Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler an der Universität Augsburg:
"Das ist immer das Problem von Lernrückständen, dass sich die aufsummieren über die Jahre hinweg. Wir müssen damit rechnen, dass die Generation Corona länger mit den Lernrückständen zu kämpfen haben wird." Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler
Viele Kinder haben weniger als zehn Bücher zuhause
Kinder beim Lesen lernen unterstützen – das kann jede und jeder Einzelne. Das wirksamste Rezept gegen Lese-Probleme ist: Viel vorlesen. Aber auch Buchgeschenke, nicht nur für die eigenen Kinder, können helfen: Denn 44 Prozent der Kinder haben maximal zehn Kinderbücher zuhause, da ist Luft nach oben.
Immer mehr Kliniken und Arztpraxen verschenken deshalb Bücher an ihre jungen Patienten. Es gibt Lese-Wettbewerbe, Lese-Festivals, Fußballevents, die Kinder fürs Lesen begeistern sollen. Es geht noch kreativer: Man kann es machen wie der Vorlese-Friseur Danny Beuerbach. Er schneidet Kindern die Haare und lässt sich dabei von ihnen vorlesen.
Man kann auch in der Nachbarschaft Büchertauschregale aufstellen und befüllen. Es gibt den Vorlesetag am 17. November 2023, es gibt Lese-Preise für besonders Engagierte. Klar ist: Damit alle Kinder lesen lernen, ist eine Menge zu tun.
Redaktionelle Anmerkung vom 01.06.2023: Das Leselernprogramm "Antolin" haben wir aus den Empfehlungen der Diagnosetools genommen, da es wissenschaftliche Hinweise darauf gibt, dass die Fragen des Programms qualitativ nicht ausreichend geprüft werden und dass sich das Programm auch negativ auf die Lesemotivation auswirken kann (Meier, C. (2019). Webbasierte Leseförderung in der Grundschule am Beispiel von Antolin. Eine empirische Studie zur Lesesozialisationsforschung. Peter Lang.). Lehrkräfte stehen dem Portal überwiegend positiv gegenüber und halten es für effektiv (Viertel, M. 2017).
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