Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) hat im Rahmen einer "Pisa-Offensive" für alle Grundschulklassen je eine Stunde mehr Deutschunterricht pro Woche vorgeschlagen, für die Jahrgangsstufen eins und vier zudem eine weitere Mathematik-Stunde wöchentlich. Dafür sollen die Schulen individuell entscheiden dürfen, in welchen anderen Fächern Stunden wegfallen. Lediglich beim Sportunterricht wollte Stolz eine rote Linie ziehen, in allen anderen Fächern sollen Kürzungen möglich sein, auch beim Religionsunterricht.
Dies wiederum schloss aber Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kategorisch aus und erklärte: "Bei Religion wird nicht gekürzt." Söder sieht Kürzungspotenzial in erster Linie beim Englischunterricht an Grundschulen.
Fokus auf sozial-emotionales Lernen
Mehr Deutsch und Mathe ist also gesetzt, weniger Sport eher ausgeschlossen und auch am Religionsunterricht soll nicht gespart werden. Wo aber dann streichen? Fragt man Expertinnen vor Ort, erhält man die Antwort: am besten gar nicht!
"Wir können es uns in der Grundschule eigentlich gar nicht leisten, irgendwas wegzulassen, weil wir diesen ganzheitlichen Lernbegriff haben", sagt Sabine Bösl, Leiterin der Abteilung Schul- und Bildungspolitik im Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV). Es werde in der Grundschule ein starker Fokus auf sozial-emotionales Lernen gelegt, auf Werteerziehung, auf Rücksichtnahme, Toleranz und Demokratie lernen. "Sollen wir das dann wegstreichen?", fragt Bösl, die Schulleiterin an einer Grundschule im Landkreis Miesbach ist. "Eigentlich müsste es genau umgekehrt sein, wir sollten nicht streichen müssen, weil jedes Fach wichtig ist und jedes Fach auch seine Notwendigkeit hat."
Bildungsforscher: Früher Englischunterricht von Vorteil
Auch Bildungsforscher an den Hochschulen tun sich schwer mit dem Gedanken, ganze Fächer in der Grundschule zu streichen, insbesondere das von Söder vorgeschlagene Fach Englisch. Denn Studien zeigen, dass Fremdsprachenunterricht gerade in der Grundschule richtig angesiedelt sei, sagt Didaktik-Professorin Raphaela Porsch von der Universität Magdeburg. "In einer Untersuchung haben wir Schüler gefragt, wann habt ihr angefangen Englisch zu lernen, vor der dritten Klasse, in der dritten Klasse oder später. Es zeigte sich, so die Bildungsforscherin, dass diejenigen im Vorteil waren, die sehr früh, also vor der dritten Klasse begonnen hatten, Englisch zu lernen.
Grundsätzlich findet es Didaktik-Professorin Porsch problematisch, Fächer gegeneinander auszuspielen: "Die Frage, welche Fächer wollen wir eigentlich in der Schule haben, die finde ich nicht verkehrt. Aber warum muss es jetzt Englisch sein, was wegfällt? Dann können wir genauso sagen, Musik oder Sport – die Diskussion ist ein bisschen leidlich." Es gehe in der Bildungsforschung darum, zu erforschen, was zu tun ist, damit der Unterricht qualitativ hochwertig wird, ohne einen Schultag unendlich auszudehnen. "Wir wissen, der Tag hat nur fünf, sechs Schulstunden, dann ist auch mal gut. Aber deshalb die Existenz eines ganzen Unterrichtsfaches wie Englisch infrage zu stellen, das irritiert mich", sagt Porsch.
Musik oder Sport streichen? Ausgleich für Kinder wichtig
Tatsächlich wird die Frage, welche Bildungsinhalte in der Schule die richtigen sind, gestellt, seit es das System Schule gibt. Und vermutlich gibt es darauf auch nicht die eine richtige Antwort, gibt Florian Kohl, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Bayern zu bedenken: "Ich denke, dass die Diskussion mehr oder weniger in manchen Fächern gar nicht zielführend ist. Man muss sich vor allem die Bedingungen vor Ort anschauen."
Tatsächlich entscheiden die individuellen Bedingungen an den Grundschulen vor Ort darüber, was im Unterricht geht und was nicht. Wie setzen sich die jeweiligen Klassen zusammen? Welche Stärken gibt es, wer muss gefördert werden? Und schließlich: Wie gut ist man aufgestellt in Sachen Personal?
"Wir wünschen uns eine ehrliche, richtige Eigenverantwortung vor Ort und nicht nur bei einem Streichkonzert", sagt Grundschulrektorin Sabine Bösl. Schon jetzt müssen Grundschulkinder, auch im Hinblick auf den Übertritt, sehr viel leisten, beklagen Lehrkräfte. Was die Stoffmenge angehe, sei der Lehrplan voll. Sport- oder Musikstunden zu streichen, sei aber der falsche Weg, weil Grundschüler diesen Ausgleich dringend brauchen, sagt Sabine Bösl. "Wir merken sehr stark, dass Kindern diese sozial-emotionale Komponente fehlt, wenn diese Fächer nicht stattfinden."
Doch sozial-emotionale Stabilität sei in der Grundschule die Basis für das Lernen, so die Rektorin. "Kinder in der Grundschule brauchen noch mal etwas anderes als in den weiterführenden Schulen. Wenn wir die Basis nicht gut legen können, wird es sehr schwierig. Weil Kinder Deutsch und Mathe nur dann gut lernen können, wenn diese Basis zugrunde liegt."
Dieser Artikel ist erstmals am 10. Februar 2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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