Eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) ist anscheinend Voraussetzung dafür, an Multipler Sklerose (MS) zu erkranken. Dass zwischen EBV und MS ein enger Zusammenhang, besteht, ist zwar schon seit Längerem bekannt. US-Wissenschaftler an der Harvard Chan School konnten diesen jedoch in einer Studie mit einer sehr großen Zahl an Teilnehmern jetzt nochmals und sehr deutlich belegen.
Multiple Sklerose: Erkrankung des Zentralnervensystems
"Die Hypothese, dass EBV MS verursacht, wird von unserer Gruppe und anderen seit mehreren Jahren untersucht. Dies ist aber die erste Studie, die überzeugende Beweise für einen ursächlichen Zusammenhang liefert", sagte Alberto Ascherio, Professor für Epidemiologie und Ernährung an der Harvard Chan School und leitender Autor der Studie, die im Fachmagazin Science erschienen ist.
Multiple Sklerose ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems. Sie greift die Myelinscheiden an, die die Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark umgeben. Die Ursache der Krankheit ist bisher nicht bekannt, aber als einer der Hauptverdächtigen gilt bereits seit längerer Zeit das Epstein-Barr-Virus (EBV), das zu den Herpesviren zählt. Es kann eine infektiöse Mononukleose, auch bekannt als Pfeiffersches Drüsenfieber, verursachen. Mehr als 90 Prozent aller Menschen infizieren sich irgendwann mit EBV und behalten es dann lebenslang im Körper. Aber nur wenige der Infizierten erkranken später an MS.
Die große Zahl an EBV-Infizierten macht es schwierig zu beweisen, ob das Virus tatsächlich die Ursache der Krankheit ist. MS ist zudem eine relativ seltene Krankheit, und die ersten Symptome treten erst etwa zehn Jahre nach einer EBV-Infektion auf. Außerdem spielen weitere Faktoren eine Rolle, ob MS ausbricht. Dazu zählen bestimmte Gene - aber auch Rauchen, niedriger Vitamin-D-Spiegel sowie Fettleibigkeit oder ein gestörter Tag-Nacht-Rhythmus in jungen Jahren.
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Studie an zehn Millionen US-Soldaten
Für ihre Studie analysierten die US-Wissenschaftler Blutproben von über zehn Millionen US-Soldaten, die alle zwei Jahre auf eine HIV-Infektion getestet werden. Sie fanden 801 Personen mit Multipler Sklerose und untersuchten deren Blutproben auf Antikörper gegen EBV. Bei 35 von ihnen waren in den ersten Blutproben zu Beginn der Dienstzeit keine Antikörper gegen EBV zu finden. 34 der 35 infizierten sich jedoch später mit EBV und entwickelten Antikörper, noch bevor bei ihnen MS ausbrach. Von den insgesamt 801 MS-Fällen hatte beim Ausbruch der Krankheit damit nur ein einziger keine EBV-Antikörper im Blut.
Die Studienautoren konnten anhand der Blutproben auch zeigen, dass bei den Personen, die ursprünglich keine EBV-Antikörper hatten, anfangs auch keine Biomarker für MS nachweisbar waren. Nach der EBV-Infektion waren diese aber in den Blutproben zu finden, und zwar noch vor Einsetzen von MS-Symptomen.
EBV Voraussetzung, aber nicht unbedingt Hauptursache von MS
Die Studienautoren kommen bei ihrer Untersuchung zum Ergebnis: "Das extrem niedrige MS-Risiko bei EBV-negativen Personen legt nahe, dass bei Weitem die meisten MS-Fälle von EBV verursacht werden." Wolfgang Hammerschmidt, Leiter der Gruppe Genvektoren am Helmholtz-Zentrum München schränkt das ein: "Die Studie macht es sehr, sehr wahrscheinlich, dass eine EBV-Infektion Voraussetzung für MS ist. Aber ist EBV, beziehungsweise sind EBV-Antigene, auch die Ursache beziehungsweise der Treiber für MS? Dies kann die Studie nicht beantworten."
Ähnlich urteilt auch Klemens Ruprecht, Leiter der Multiple Sklerose Ambulanz der Charité, Universitätsmedizin Berlin: "Durch welche Mechanismen das EBV an der Entwicklung einer MS mitwirkt, ist derzeit unbekannt. Daher ist die entscheidende wissenschaftliche Herausforderung, nunmehr den Mechanismus zu klären, durch den EBV in der Entstehung der MS eine Rolle spielt. Die zentrale Frage lautet somit nicht ob, sondern wie EBV an der Entwicklung einer MS beteiligt ist."
Impfstoffe und Medikamente noch in weiter Ferne
"Derzeit gibt es keine Möglichkeit, eine EBV-Infektion wirksam zu verhindern oder zu behandeln, aber ein EBV-Impfstoff oder die Bekämpfung des Virus mit EBV-spezifischen antiviralen Medikamenten könnte MS letztendlich verhindern oder heilen", fasst Ascherio zusammen, welche Behandlungsperspektiven die Studienergebnisse liefern.
Diese Einschätzung teilt Klemens Ruprecht. Er dämpft aber Hoffnungen auf einen baldigen Schutz vor MS durch einen Impfstoff gegen EBV: "Theoretisch bedeutet der kausale Zusammenhang zwischen EBV und MS, dass eine Impfung gegen EBV die Entstehung einer MS verhindern sollte. Praktisch stehen derzeit aber keine zugelassenen EBV-Impfstoffe zur Verfügung. Darüber hinaus würde es, selbst wenn es gelänge, einen wirksamen Impfstoff gegen EBV zu entwickeln, Jahrzehnte dauern, bis abschließend klar wäre, ob ein derartiger Impfstoff tatsächlich einen Schutz vor MS bewirkt."
Ein EBV-Impfstoff, der MS verhindern kann, müsste eine sterile Immunität hervorrufen, also eine Infektion komplett verhindern. Die Entwicklung eines solchen EBV-Impfstoffes ist aber nach Aussage von Wolfgang Hammerschmidt derzeit aus verschiedenen Gründen unwahrscheinlich. Realistisch sei hingegen ein Impfstoff, der zwar nicht unbedingt jede Infektion mit EBV verhindert, aber zumindest den Ausbruch des Pfeifferschen Drüsenfiebers. Bereits damit wäre ein zusätzliches Risiko bei der Entstehung von MS ausgeschaltet.
Auch die Behandlung von MS mit Medikamenten, die gegen EBV wirken, ist derzeit noch nicht aktuell. Es gibt zwar Versuche, mit speziellen Antikörpern und T-Zellen die EBV-infizierten Zellen zu zerstören. Diese sind jedoch zum Teil gar nicht tatsächlich in der Praxis an lebenden Menschen anwendbar. Zudem ist zweifelhaft, ob eine derartige Therapie tatsächlich alle infizierten Körperzellen erreichen und EBV komplett ausschalten kann.
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