Mitten in der Wüste der Doro-!nawas-Berge im nordwestlichen Zentralnamibia stehen riesige rötliche Sandsteinfelsen, die mit eingravierten Darstellungen übersät sind. Die monumentalen Bilder zeigen menschliche Fußabdrücke, Hufe, Tatzen, Vogelkrallen und andere Tierfährten, aber auch Umrisse von Tieren. Steinzeitliche Jäger und Sammler haben diese Bilder vor mehreren Tausend Jahren in Felsbrocken geritzt. Heute interessieren sich Archäologen für diese uralte Kunst, bislang konnten sie aber nur die abstrakt dargestellten Tierarten bestimmen.
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Archäologen fehlt Spezialwissen
Die abgebildeten Spuren und Fährten wurden bislang kaum wissenschaftlich untersucht. Dass sie ein "reichhaltiges Informationsmedium" darstellen könnten, sei bislang völlig außer Acht gelassen worden, sagt der Prähistoriker Andreas Pastoors vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Der Grund: Den kunsthistorisch ausgebildeten Archäologen fehlt das passende Wissen, um Mensch- und Tierspuren auszuwerten.
Um den Fährten auf die Spur zu kommen, bat Pastoors, gemeinsam mit seinem FAU-Kollegen Professor Thorsten Uthmeier und dem Archäologen Tilman Lenssen-Erz von der Universität zu Köln, drei Fährtenleser des namibischen Nyae Nyae Conservancy-Schutzgebietes um Hilfe. Mit der Unterstützung von Tsamgao Ciqae, Ui Kxunta und Thui Thao Um versuchten die Forschenden, ihr westliches archäologisches Wissen mit indigenem Wissen zu verschmelzen, um mehr über die dargestellten Tierfährten zu erfahren. Die drei Fährtenleser entstammen dem Volk der San, der ältesten Bevölkerungsgruppe Namibias. Eine Kooperation mit ihnen hatte sich bereits in einem vorangegangenen Forschungsprojekt bewährt.
Erste Kooperation in Frankreich
Ursprünglich ging die Zusammenarbeit mit den namibischen Fährtenlesern auf ein europäisches Forschungsprojekt zurück. 2013 untersuchte Pastoors prähistorische Fußabdrücke in der Höhle Tuc d’Audoubert in den französischen Pyrenäen. Die Analyse der Namibier gab Hinweise auf den Ursprung und die Bedeutung von Spuren, die schließlich zu einer Neuinterpretation der Funde führte. So lüfteten sie das Rätsel um rund 180 Fußabdrücke, die bislang von den europäischen Archäologen als ritueller Tanzplatz interpretiert worden waren.
Die Spuren befinden sich zwischen zwei 17.000 Jahre alten Lehmskulpturen und einer Grube, in der Menschen Lehm beschafft haben. Die namibische Fährtenleser argumentierten, hier seien Menschen einfach hin und hergelaufen. "Und zwar hin – ohne zusätzliches Gewicht – zu der Grube, dort haben sie Lehm ausgehoben und sind wieder zurückgegangen und haben Abdrücke hinterlassen, die tiefer in den Untergrund eingehen", erklärt Pastoors. Häufig seien die Erklärungen der Fährtenleser viel einfacher und alltäglicher gewesen als die Vermutungen der Wissenschaftler.
Dorfbewohner an der Fußspur erkennen
Zurück in Namibia: Wenn das Forscher-Team aus deutschen Archäologen und namibischen Fährtenlesern die Felskunst in den kargen Doro-!nawas-Bergen analysierte, dann diskutierten erstmal die drei afrikanischen Experten in ihrer Heimatsprache Juutua. Über Spuren zu diskutieren, gehört für sie zum Alltag, denn sie leben in einem Gebiet Namibias, wo die Jagd mit Pfeil und Bogen erlaubt ist. Um die Ernährung zu sichern, ist man hier vom Können der Fährtenleser abhängig. Es heißt, sie könnten jeden einzelnen Dorfbewohner an seiner Fußspur erkennen. Manche arbeiten auch für Touristen, die auf Trophäenjagd gehen, oder für die namibischen Streitkräfte.
Kamen die Fährtenleser zu einer Entscheidung, präsentieren sie den deutschen Wissenschaftlern ihre Ergebnisse auf Englisch. Und tatsächlich steckten in den eingeritzten Abdrücken eine Fülle von Informationen, wie die FAU-Wissenschaftler im Forschungsmagazin PLOS ONE berichten.
Spuren von Tieren, die in anderen Regionen lebten
Über 90 Prozent der analysierten 513 Darstellungen konnten sie insgesamt 39 verschiedenen Tierart zuordnen, zudem Alter und Geschlecht des dargestellten Tieres sowie den genauen Laufweg von Fährte oder Fußabdruck. "Es gibt eine Ordnung. Die Giraffen sind eher nach oben orientiert, Zebra-Fußspuren gehen in alle Richtungen, wir haben Babyspuren von Kleinkindern – ein ganzes Spektrum von Lebewesen, die wir vorher nicht so erkannt hatten", sagt Pastoors.
Eine weitere Erkenntnis: Die Steinzeitmenschen, die diese Spuren einritzten, kannten viel mehr Tiere, als heute in der Gegend um die Doro-!nawas-Berge vorkommen. "Wir haben dort Tiere, die in dem Wüstenklima nicht überlebt hätten, das heißt, die Kunst gibt uns Hinweise darauf, dass die Menschen unterwegs waren und möglicherweise auch, wo sie unterwegs waren", sagt der Erlanger Prähistoriker.
Kann man indigenes Wissen wissenschaftlich nutzen?
Trotz der umfangreichen Ergebnisse sehen einige Archäologen die Arbeit der Forscher aus Erlangen und Köln auch kritisch. Sie bemängeln, dass in dem indigenen Wissen eher intuitive Erkenntnisse zum Tragen kämen, die nicht mit messbaren Daten zu belegen seien.
Der Archäologe Conny Meister sieht das anders. Er hat sich während seines Studiums an der Universität Kapstadt intensiv mit südafrikanischer Felskunst beschäftigt. "Die Felskunst ist eine archäologisch schwer zu fassende Quellengattung. Einerseits ist eine Datierung schwierig, die Archäologen wissen zum Teil gar nicht, ob eine Fundstelle in kurzer Zeit oder über einen längeren Zeitraum entstanden ist. Zum anderen können wir die Ersteller der Ritzungen nicht mehr befragen. Deshalb ist es so hilfreich, verschiedene Hilfsmittel und Interpretationsmöglichkeiten zu haben."
Fährtenlesen an 3D-Modellen
Auch FAU-Archäologe Pastoors hat die ungewöhnliche Zusammenarbeit zum Nachdenken gebracht: "Die San machen den Archäologen vor, wieviel drinsteckt und wieviel Unwissen sie eigentlich haben. Sie stellen ihnen einen Spiegel vor, dass sie sich mit Dingen beschäftigen, von denen sie eigentlich keine Ahnung haben."
Deshalb wollen seine Kollegen und er sich diese Ahnung erarbeiten. In Zukunft möchte Pastoors sich dabei wieder auf die französischen Höhlen konzentrieren. Und vielleicht bekommt er auch dafür wieder Hilfe aus Namibia. "Aus Frankreich werden wir 3D-Modelle von Fußabdrücken mitnehmen nach Namibia, um mit den Fährtenlesern darüber zu sprechen, ob sie diese genauso verstehen wie das Original", sagt Pastoors. Das sei eine Kompromisslösung, weil gerade der Kontext für die Fährtenleser entscheidend sei. Vielleicht macht aber genau das die neue Perspektive so wertvoll: Die Fährtenleser vermessen keine Einzelteile wie westliche Wissenschaftler. Sie lesen in größeren Zusammenhängen.
Dieser Artikel ist erstmals am 4. Oktober 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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