Vor der Costa del Sol hat ein weiterer Vorfall für erhebliche Schäden an einem Segelschiff gesorgt, nachdem es von mehreren Orcas umringt worden war. Das Boot befand sich auf dem Weg zur Mallorca-Regatta "Copa del Rey" und geriet am vergangenen Donnerstagabend vor dem spanischen Küstenort Estepona in die missliche Lage, wie die Wettbewerbsorganisatoren berichteten.
Niemand wurde verletzt, jedoch rissen die Schwertwale ein Stück des Steuerruders ab. Dadurch wurde das Boot manövrierunfähig, der spanische Seerettungsdienst musste das Schiff abschleppen. Vermutlich waren drei bis vier Orcas an der Aktion beteiligt.
Bislang hat es insgesamt drei ähnliche Ereignisse bei der "Copa del Rey" gegeben, einschließlich eines Vorfalls vom letzten Freitag, der erst jetzt bekannt wurde. Die Regatta vor Mallorca beginnt am Samstag. An dem Wettbewerb nimmt in der Regel auch Spaniens König Felipe VI. (55) mit seinem Boot teil.
Orcas in freier Wildbahn: bislang keine Angriffe auf Menschen
Vorneweg ist zu betonen, dass es bislang keine dokumentierten Fälle gibt, bei denen die Tiere in freier Wildbahn Menschen angegriffen haben. Vielmehr haben die hochintelligenten Meeressäuger eine lange Geschichte der Interaktion mit dem Menschen. Vor der Küste Norwegens können sogar Schwimmkurse mit Orcas gebucht werden. Seit Mai 2020 stehen die Tiere jedoch wegen ihrer Zwischenfälle mit Segelschiffen, genauer ihrer gezielten "Angriffe" auf die Ruder, im Zentrum der Berichterstattung.
Forschende betonen jedoch in diesem Zusammenhang immer wieder, dass vielmehr von "Interaktionen" als von "Angriffen" gesprochen werden sollte. Vor allem vor der Iberischen Halbinsel, insbesondere in der Straße von Gibraltar, wurden seitdem zahlreiche solcher Vorfälle dokumentiert. Laut einer im Juni 2022 in der Zeitschrift "Marine Mammal Science" veröffentlichten Studie sind zunächst einmal besonders Boote mit sogenannten Spatenrudern betroffen. Mindestens 15 der 35 Schwertwale in der Region sollen an den ungewöhnlichen Zusammenstößen beteiligt sein.
Schwertwale und Segelschiffe: Theorien zum Verhalten der Orcas
Die betreffenden Orcas sind mit bis zu sechseinhalb Metern deutlich kleiner als ihre arktischen Verwandten, die eine Länge von bis zu neun Metern erreichen können. Der Iffeldorfer Segler Thomas Käsbohrer, Autor des Buches "Das Rätsel der Orcas", hat mit unterschiedlichen Expertinnen und Experten zum Thema gesprochen. Er sagt: "Es gibt hier viele Theorien. Die Rache ist ein Thema, die menschlichen Aktionen in der Straße von Gibraltar, die Überfischung, der Hunger, Krankheit, Parasiten. Fast jeden Tag kommen neue dazu. Aber so, wie es im Moment aussieht, ist das eher eine Art Spiel, eine Art Training." Mittlerweile gehe man von bis zu 500 beschädigten Rudern aus, so Käsbohrer.
Auch Ursula Siebert, Leiterin des Institutes für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover, betont, dass es keine gesicherten Kenntnisse gebe, warum diese Orca-Gruppen gerade diese Art von Interaktionen mit Segelbooten suchen: "Meistens sind es bestimmte Orca-Gruppen beziehungsweise -Familien, die ein bestimmtes Verhalten entwickeln." Dies werde über lange Zeit erlernt und dann in der Gruppe praktiziert. "Es können einzelne schlechte Erfahrungen mit Orca-Familien, hier besonders Mutter-Kalb-Paare, spielerisches Verhalten oder auch Unmut über Störungen im Habitat dazu führen, dass Gruppen diese Art der Verhaltensweisen entwickeln", so die Wildtierforscherin. Der beste Schutz für die Segler sei im Moment, die entsprechenden Habitate der Orcas nicht zu queren, sondern großzügig zu umfahren, um somit die Störungen zu minimieren und den Schutz der Tiere sicherzustellen.
Orca-Zwischenfälle können auch positives Bewusstsein schaffen
Die genauen verhaltensbiologischen Ursachen für die Orca-Zwischenfälle sind also momentan nicht endgültig zu klären. Umso wichtiger ist es jedoch zu verstehen, warum das Thema derart polarisiert und präsent ist in Diskurs und Medien. Markus Behmer ist Professor für empirische Kommunikationswissenschaften an der Uni Bamberg. Er sieht in diesem Zusammenhang zwei verschiedene Frames: "Das eine ist das Bedrohungsthema, das wir seit Jahrhunderten haben und das jetzt neu aktualisiert worden ist, gerade durch Frank Schätzings Roman 'Der Schwarm'. Das Zweite ist das Abenteuerliche, das Meer, die blaue See, das finden wir alle toll. Schöne Bilder, die jederzeit ins Bedrohliche kippen können."
Der Kommunikationswissenschaftler betont, dass über solche Themen auch ein neues Bewusstsein geschaffen werden könnte für die Bedrohungen, denen sich Orcas ausgesetzt sehen. Die iberischen Orcas wurden 2011 von der spanischen Regierung als bedrohte Tierart eingestuft. Sie stehen seit 2019 auch auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion (IUCN).
- Die Rote Liste wächst rasant. Doch wer stellt sie überhaupt zusammen? Hier lesen Sie mehr dazu.
Keine faire Berichterstattung: "Die Natur schlägt zurück"
Liza Bauer, wissenschaftliche Geschäftsführerin des "Panel on Planetary Thinking" der Justus-Liebig-Universität Gießen, fordert in diesem Zusammenhang vor allem eine sachgetreue und aufklärende Berichterstattung. Sie kritisiert Slogans wie "Die Natur schlägt zurück". In Anbetracht des Klimawandels, des Artensterbens und der Übersäuerung der Meere sei es höchste Zeit zu verinnerlichen, dass menschliche Gesellschaften Teile des Planeten seien, also auch selbst Teile von dem, was sie als "Natur" verstehen: "Nicht-menschliche Tiere wie Orcas, die vermeintlichen Vertreter der 'zurückschlagenden Natur', sind keine Gegner der Menschheit, sondern ihre engen Verwandten, aktive Mitgestalter planetaren Geschehens und letztlich mögliche Kooperationspartner im Kampf um den Erhalt eines geteilten Planeten. Auf diese Weise sollte auch von ihnen berichtet werden."
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