Das Areal der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt im Norden Erlangens hat sich seit 1945 stark verändert. Die "Hupfla", wie sie lokal auch genannt wird, ist schon in den 1970er-Jahren als Psychiatrische Klinik an den Europakanal umgezogen. Das alte Gelände wurde dem Freistaat für den Aufbau der Uniklinik übergeben, sowie für ein Max-Planck-Institut, erklärt Dorotea Rettig vom Stadtarchiv Erlangen. "Das Gelände wurde aufgelassen und bis auf wenige Gebäude vollständig abgebrochen."
Streit um "richtiges" Gedenken: Jahrzehntelange Diskussion in Erlangen
Doch um die nicht abgerissenen Gebäudeteile ist seit Jahren eine intensive Diskussion in der Stadtgesellschaft entbrannt. Denn das Universitätsklinikum wollte zunächst auch sie abreißen. Unter anderem ein Aktionsbündnis forderte, die "Hupfla" zu erhalten. 2015 initiierte der Stadtrat dann, dort einen Gedenkort zu schaffen. Vor zwei Jahren wurde dafür ein Rahmen-Konzept beschlossen. Jörg Skriebeleit, Historiker und Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, hat es mitentwickelt. Er ist zufrieden mit dem Ergebnis, wie er sagt: "Weil ein Teil, für den schon eine Abbruchgenehmigung vorgelegen hat, nämlich der sogenannte Mittel-Risalit mit einer jeweiligen Verweis-Fläche auf den ehemaligen Männer- und Frauenflügel, erhalten bleibt."
Krankenakten zeugen von Schicksalen
In den Männer- und Frauen-Flügeln waren im Souterrain sogenannte "Hungerstationen" eingerichtet. Rudolf G. zum Beispiel war damals dort. Er wurde 1941 im Alter von 19 aus einer Pflegeeinrichtung für behinderte Kinder zusammen mit zahlreichen anderen Kindern in die Heil- und Pflegeanstalt Erlangen verlegt. Zwar wird er nicht Opfer der gezielten Vergasung von psychisch Kranken und geistig behinderten Menschen, der "Aktion T4". Aber seine Krankenakte bescheinigte ihm: "weitgehend verblödet", "nicht erziehungs- und bildungsfähig", "vorlaut" und "zu nicht einmal leichte Hilfsarbeiten in der Station fähig". Für die Nationalsozialisten hieß das: Sein Leben galt als nicht lebenswert.
"Hungerkosterlass" des Bayerischen Innenministeriums
Rudolf wird Opfer der von den Nationalsozialisten als "dezentrale Euthanasie" bezeichneten Phase der Vernichtung psychisch kranker und behinderter Menschen. In Bayern wird diese 1942 durch den "Hungerkosterlass" vom Bayerischen Innenministerium legitimiert. Auf speziellen Stationen in Heil- und Pflegeanstalten bekommen ausgewählte Bewohner ab dann absichtlich zu wenig Nahrung. Auch Rudolf bekommt in der "Hupfla" Erlangen etwa nur noch wässrige Gemüsesuppe fast ohne Nährwert. Als er 28 Kilo wiegt, stirbt er. Die vermerkte Todesursache: "Kachexie bei Idiotie." Kachexie bedeutet "Auszehrung, extreme Abmagerung". Er ist einer von über 1.000 Opfern in Erlangens Kellern.
Hungerstationen werden nur teilweise erhalten
In dem noch existierenden Gebäudekomplex soll nun zusätzlich zu im Stadtraum verteilten Gedenkstätten der neue "Erinnerungs- und Zukunftsort" entstehen. Derzeit läuft dafür ein Gestaltungswettbewerb. Im Mittelteil des noch existierenden Gebäudes, dem Mittel-Risalit, waren unter anderem Wohnungen für Pflegekräfte und Ärzte eingerichtet. Das Problem für einige: Von den beiden Gebäudeflügeln, in dem vor allem Patienten untergebracht waren, sind von einem noch ein paar Meter übrig, der andere soll laut Bauplanung in diesem Frühjahr auf eine ähnlichen Größe hin abgerissen werden.
Neue Erkenntnisse - Teilabriss des Opferorts?
Diesen Teilabriss will Andreas Frewer, Professor für Ethik der Medizin an der Uni Erlangen-Nürnberg, verhindern. Sein Argument: "Dieser Ort sollte ja nicht nur an die Ärzte und Beamtenwohnungen aus dem mittleren Abschnitt erinnern, sondern diese Gedenkstätte muss das zentrale Blickfeld auf die betroffenen Geisteskranken richten." Er hat selbst zu den Hungerstationen geforscht und möchte den "authentischen Opferort" erhalten. Außerdem habe er vor kurzem neue Belege gefunden, wo genau diese Stationen auf dem Gelände waren. Die Erkenntnisse müssten bei den Teilabriss-Plänen mit einbezogen werden, meint er. Das forderte am Donnerstag auch der Verband "Ärzte für Frieden und soziale Verantwortung" aus der Erlangener Region in einem offenen Brief an Ministerpräsident Söder.
Konzentrationslager und Heil- und Pflegeanstalten anders zu "bedenken"?
Historiker Jörg Skriebeleit sieht das anders. Das, was jetzt erhalten werden soll, verweise sehr wohl auf die Täter als auch auf die Opfer. Die neuen Belege würden nur bestätigen, was zuvor schon bekannt war. Außerdem gebe es nach der langen Zeit "keine Spur der Trakte" mehr. Für Jörg Skriebeleit sind die bayerischen Heil und Pflegeanstalten in der Gedenkpraxis auch durchaus anders zu behandeln, als etwa Konzentrationslager. Diese seien "gebaute Tatorte" im Gegensatz zu den Heil- und Pflegeanstalten, die "gewordene" Tatorten seien. "Sie werden nach 1945 wieder zu medizinischen Einrichtungen. Das ist tatsächlich ein fundamentaler Unterschied." Er geht fest davon aus, dass der Teilabriss stattfindet.
Freistaat hält an Abriss-Plänen fest
Der Freistaat hält indes weiter an dem Teilabriss fest. Auf Anfrage von BR24 bekräftigt das Bayerische Wissenschaftsministerium die Pläne. Es bestehe kein Anlass, "den über viele Jahre gefundenen Kompromiss, der moderne Forschungsmöglichkeiten und einen Erinnerungsort für die begangenen NS-Verbrechen gleichermaßen in den Blick nimmt, in Frage zu stellen". Die aktuellen Planungen für das Gelände der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen seien in einem langjährigen Diskussionsprozess entstanden, so das Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst weiter. Sie berücksichtigten das berechtigte Anliegen, dass dort ein angemessener Gedenkort entstehen kann. Der Landtag habe das Thema im Jahr 2019/2020 eingehend behandelt. Dies habe zum Erhalt des Mitteilteils als Ergebnis geführt.
Bayernweit Gedenken um Opfer der NS-Krankenmorde
Auch andere Heil- und Pflege-Anstalten in Bayern hatten während der Zeit des Nationalsozialismus Hunger-Stationen eingerichtet. Etwa Eglfing-Haar bei München, das schwäbische Kaufbeuren-Irsee, im mittelfränkischen Ansbach oder im niederbayerischen Mainkofen. An diesen Orten wird der Opfer auf unterschiedlicher Weise gedacht. So meint Dorothea Rettig vom Stadtarchiv Erlangen: "Angemessenes Gedenken kann man nicht in Quadratmetern messen. Es kommt darauf an, dass gedacht wird." Das Gedenken der Opfer der NS-Krankenmorde wird bayernweit erst seit Mitte der 1990er Jahre vorangetrieben. Das Ringen um die richtige Form ist Teil davon.
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