Genanalysen und Gendiagnosen in der Medizin sind zwar aufwändig, gehören aber inzwischen zum wissenschaftlichen Alltag. Kein Wunder, ist es doch schon zwei Jahrzehnte her, dass das menschliche Erbgut entschlüsselt wurde: 2001 präsentierte das Human Genome Project erstmals das menschliche Genom. Bis heute gilt es als Referenzgenom - als Standard für den Vergleich bei Genanalysen.
Referenzgenom bislang von nur einem Menschen
Dabei besteht dieses Referenzgenom größtenteils aus dem Erbgut eines einzigen Menschen: eines Mannes aus Buffalo im US-Staat New York. Einige Lücken, die es aufwies, wurden mit Genomschnipseln von rund zwanzig anderen Menschen gestopft. Und immer noch weist es einige Lücken auf. Das ist aber gar nicht das größte Problem.
Was Forschende vermissen, ist die Diversität. Denn jeder von uns ist anders. Jedes Genom sieht ein kleines bisschen anders aus. Es gibt zahlreiche Varianten im Genom, Abweichungen von der Norm.
Pangenom soll ganze Menschheit repräsentieren
Da soll das neue Pangenom Abhilfe schaffen, das am 10. Mai veröffentlicht und im Fachmagazin Nature vorgestellt wurde. Das international besetzte Human Pangenome Reference Consortium (HPRC) möchte mit dem Pangenom ein neues Referenzgenom zugänglich machen, dass das Erbgut von insgesamt 350 verschiedenen Menschen präsentiert, die aus möglichst vielen verschiedenen Regionen und Völkern der Welt kommen. Die Vielfalt der Menschheit mit den vielen möglichen Varianten im Erbgut soll durch das Pangenom erfasst sein.
Erster Entwurf aus dem Erbgut von 47 Menschen
Einen ersten "Entwurf" des Pangenoms konnte das HPRC jetzt präsentieren: Es besteht aus dem Erbgut von 47 verschiedenen, nicht miteinander verwandten Menschen. Etwa die Hälfte davon aus Afrika, ein Drittel aus Nord- oder Südamerika, sechs asiatische Personen und eine aus Europa. Noch fehlen also viele Regionen und Völker, Ozeanien ist beispielsweise noch gar nicht vertreten. Dennoch ist das Pangenom nach Angabe des HPRC schon jetzt wesentlich genauer als das bisherige Referenzgenom. Das zeigen zwei Studien, die in Begleitung mit der Pangenom-Veröffentlichung gemacht wurden und ebenfalls am 10. Mai in Nature erschienen sind.
Diversität der Menschen zeigt sich in Varianten im Genom
Obwohl die Menschen zu etwa 99 Prozent in ihrem Erbgut, ihrem Genom, übereinstimmen, gibt es zahlreiche Varianten im menschlichen Genom. Mit dem Pangenom sollen möglichst viele davon zusammengeführt werden, erläutert der Biologe Michael Lange im Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk: "Man versucht, daraus eine große gemeinsame Geschichte herzustellen, gleichzeitig aber auch den Ursprung der einzelnen Geschichten, aus denen sie hervorgegangen ist, nicht zu vergessen und auch die zu notieren."
Varianten sind die Norm
Das Genom sei wie ein Mosaik, das man aus der Ferne betrachtet, macht Siegfried Schloissnig deutlich, Projektleiter am Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie in Wien: "Viele Teile können durch Ähnliche ersetzt werden, ohne das Ergebnis zu verfälschen, manche haben keine Alternativen. Ein Pangenom stellt eine Art Katalog dar, der besagt, was an gewissen Stellen möglich ist, um noch ein gleichwertiges Ergebnis zu erhalten." Denn ob blaue, braune, grüne oder graue Augen - das bedeutet keinen Unterschied beim Sehen. Ein Gendefekt kann jedoch Blindheit bedeuten.
Auch vom Pangenom weicht das Individuum ab
Auch von diesem zukünftigen Pangenom, das die Menschheit in ihrer Gesamtheit präsentieren soll, aber "nur" aus dem Erbgut von 350 Personen zusammengesetzt ist, wird es individuelle Abweichungen geben. Das können seltenere Varianten im Genom sein oder die Individualität des Menschen. Oder aber ein Hinweis auf eine genetisch bedingte Krankheit. Denn um diese geht es den Forschenden vor allem.
Wofür brauchen wir das Pangenom?
Insbesondere in der Krebsforschung erhofft man sich viel vom Pangenom. Denn Krebs entsteht durch Veränderungen im Erbgut. Ebenso klassische Erbkrankheiten wie die Bluterkrankheit oder Sichelzellenanämie. Um die Entstehung und Ausbreitung solcher Krankheiten zu erforschen, muss man die Veränderungen im Genom der Patienten feststellen können - im Vergleich mit dem sogenannten humanen Referenzgenom, erklärt Prof. Dr. Peter Lichter, Leiter der Abteilung Molekulare Genetik am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ).
Im Vergleich zum bisherigen Referenzgenom mit seinem Ursprung in Buffalo feiern Forschende das neue Pangenom, das gerade erstellt wird. Es ist für die Forschung ein viel präziseres Instrument - wie ein viel schärferes Mikroskop etwa.
Die Lupe bei der Suche nach Erbkrankheiten
"Für einen erheblicher Anteil der Patient*innen – etwa ein Drittel –, die eine genetische Krankheit haben, kann man die Krankheit bereits jetzt mit mithilfe des Referenzgenoms diagnostizieren. Allerdings können wir bei etwa zwei Drittel der Patient*innen, bei denen wir eine genetische Erkrankung vermuten, aber keine Erkrankung diagnostizieren. Mit dem vollständigen Genom sollte sich diese Situation verbessern," schreibt Prof. Dr. Stefan Mundlos, Genetiker an der Berliner Charité auf Anfrage des Science Media Centers (SMC).
Das Pangenom ist öffentlich
Es wird noch dauern, bis das Pangenom wirklich das Erbgut von 350 Personen präsentiert. Und noch viele Jahre, bis es durch weitere Genom-Analysen noch genauer wird. Aber schon jetzt steht es allen Forschenden zur Verfügung: Sowohl die Genomdaten selbst als auch die dafür nötigen neuen Werkzeuge werden vom Human Pangenome Reference Consortium für alle zugänglich gemacht. "So kann die wissenschaftliche Community sehr viel schneller diese wichtigen neuen Befunde weiterentwickeln und für mögliche medizinische Anwendungen nutzen", begeistert sich Lichter vom DKFZ.
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