Poliomyelitis, besser bekannt als Kinderlähmung oder Polio, ist eine grausame Krankheit. Jahrhundertelang war sie in Europa weit verbreitet und ist bis heute nicht heilbar. Die einzige Möglichkeit, sich zu schützen, ist die Impfung.
Welche Impfstoffe gibt es?
Gegen Polio gibt es sowohl einen Totimpfstoff (IPV = inaktivierte Polio-Vakzine) als auch einen Lebendimpfstoff (OPV) = orale Polio-Vakzine). Beide Impfstoffe haben Vor- und Nachteile.
Der IPV-Impfstoff: Er wird injiziert und sorgt dafür, dass die Impflinge schützende Antikörper gegen Polio aufbauen und so vor den schwerwiegenden Folgen einer Infektion geschützt sind. Allerdings kann es trotzdem zu einer Infektion kommen – zum Beispiel durch Polio-Viren, die über verunreinigtes Trinkwasser aufgenommen werden. Für die Geimpften ist das in der Regel unproblematisch, da sie symptomlos bleiben oder nur leichte Symptome haben. Allerdings vermehren sich die Erreger und werden über den Darm ausgeschieden – und können so ungeimpfte Personen anstecken.
Der OPV-Impfstoff: Der orale Impfstoff enthält spezielle, abgeschwächte Viren aller drei Wild-Typen der Polio und hat den Vorteil, dass er sehr gut wirkt, wenig kostet und einfach zu verabreichen ist. Vor allem in Afrika und Asien wird noch verbreitet auf die Schluckimpfung mit Lebendimpfstoffen gesetzt. Das sehr geringe Risiko eines Impfpolio-Falls wird in Kauf genommen zugunsten einer großflächigen Immunisierung der Bevölkerung. In Polio-freien Ländern wird dieser Impfstoff in der Regel nicht mehr verwendet.
Nach der Gabe des oralen Impfstoffs, bei denen die Impflinge die abgeschwächten Viren per Schluckimpfung bekommen, können sie die Impfviren einige Wochen lang über den Stuhl ausscheiden. Die Impfviren werden so über Schmierinfektionen von anderen Kontaktpersonen aufgenommen und können einerseits zu einer "passiven" Immunisierung der Kontaktperson führen, sodass diese auch einen Impfschutz erhalten. Anderseits kann in seltenen Fällen aber auch eine Erkrankung hervorgerufen werden. Denn sie können bei Menschen, die nicht ausreichend oder gar nicht geimpft sind, lange zirkulieren, ohne, dass sie sich bemerkbar machen. Doch mit der Zeit können die Viren mutieren und wieder Krankheitssymptome hervorrufen. Je länger das Virus zirkuliert, umso größer ist die Gefahr, dass veränderte Viren auftreten, die nach Infektion eine symptomatische Erkrankung hervorrufen können. Diese Viren nennt man „circulating vaccine-derived polioviruses“ (cVDPV), d.h. Impfstoff-abgeleitete Viren.
"Die abgeschwächten Viren in der Schluckimpfung können lange Zeit unentdeckt zirkulieren, sich dabei verändern und schließlich wieder akute schlaffe Lähmungen verursachen", heißt es beim RKI. Durch die sehr niedrige Zahl an Fällen, die Symptome aufweisen, kann bei einer nachgewiesenen Erkrankung mit etwa 200 weiteren, nicht erkannten Infektionen gerechnet werden. Solche Infektionen stellen ein größeres Problem dar als die Infektionen durch die Wildtypen der Polio. Im Jahr 2022 wurden weltweit 880 Fälle und 2023 bisher 305 cVDPV2-Infektionen erfasst, laut Epidemiologischem Bulletin des Robert Koch-Institut (RKI). Sie treten vor allem in Gebieten auf, in denen ein hoher Anteil der Bevölkerung ungeimpft ist. Der Einsatz eines neuartigen OPV-Impfstoffs, der im Gegensatz zum ursprünglichen OPV genetisch stabiler ist, soll cVDPV2-Ausbrüche eindämmen, so das RKI.
- Zum Artikel: Tot oder lebendig - was Impfstoffe unterscheidet
Keine Polio-Ausrottung: Geringe Impfquote ist ein Problem
Zwar konnte mithilfe des oralen Polio-Impfstoffs erreicht werden, dass die Poliofälle weltweit um über 99 Prozent zurückgingen, trotzdem erweist sich eine komplette Auslöschung des Krankheitskeimes deutlich schwieriger als zunächst angenommen. Damit ein ausreichender Schutz vor Polio für die Bevölkerung gewährleistet ist, ist eine Impfquote von mindestens 95 Prozent nötig, so die WHO. Nur so kann verhindert werden, dass das Virus sich ausbreitet und es zu größeren Ausbrüchen kommt.
Dadurch, dass für viele Menschen die Gefahr von Polio in den Hintergrund gerückt ist, lassen sich weniger impfen. Die heutige Elterngeneration kenne die dramatischen Auswirkungen der Kinderlähmung nicht mehr aus eigener Anschauung. Deshalb stünden sie einer Polio-Impfung womöglich gleichgültig gegenüber, sagte Rudi Tarneden, Sprecher des Kinderhilfswerks Unicef 2019. In vielen Ländern spielt oder spielte Polio keine Rolle mehr, deswegen fühlen sich viele Menschen sicher.
Weltweite Impfkampagnen gegen Polio
Auch der Weltgesundheitsgipfel im Oktober 2022, das wichtigste internationale Treffen für globale Gesundheit, das gemeinsam mit der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgerichtet wurde, beschäftigte sich mit dem Thema Polio. "Solange Kinderlähmung nicht überall ausgerottet ist, ist kein Ort sicher", sagte Svenja Schulze, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und Ko-Gastgeberin der Konferenz. Die Weltgemeinschaft will die Krankheit bis 2026 besiegen und dafür 370 Millionen Kinder gegen Polio impfen. "Polio lässt sich nur besiegen, wenn wir weltweit gegen die Krankheit vorgehen. Denn solange das Virus irgendwo existiert, kann es sich wieder ausbreiten, auch bei uns," sagte Svenja Schulze. Dank der Impfungen sei Polio kurz davor, der Vergangenheit anzugehören. "Wir stehen kurz vor der Ausrottung der Kinderlähmung, womit sie erst die zweite Krankheit nach den Pocken wäre, die in die Geschichte übergehen würde", sagte der WHO-Regionaldirektor Hans Kluge.
Die drei Wild-Typen des Polio-Virus
Es gab drei Virustypen der Polio. Zwei von ihnen gelten als ausgerottet. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sich zum Ziel gesetzt, dass die ganze Welt poliofrei wird. Ursprünglich wollte sie die Kinderlähmung 2016 auf die Liste der weltweit ausgerotteten Krankheiten setzen.
Das gelang aber nur mit zwei der drei Virentypen, die wild zirkulieren: Der letzte Polio-Typ-3-Fall trat 2012 in Nigeria auf und gilt seit 2019 als ausgerottet. Der letzte Polio-Typ-2-Fall wurde 1999 in Indien registriert und gilt seit 2015 als ausgerottet. Der Polio-Wildviren Typ 1 kursiert noch in zwei Ländern – in Pakistan und Afghanistan. Im Jahr 2022 habe es dort wieder einen Anstieg erfasster Infektionen mit Poliowildviren (WPV) gegeben, so das RKI.
Wie ist die Polio-Situation in Deutschland?
Auch in Deutschland ist die Impfquote zu niedrig. "Die Impfquote in Deutschland für drei Dosen Polioimpfstoff liegt für Kinder im Alter von 15 Monaten bei 90,1 % (Ergebnisse der Impfsurveillance der Kassenärztlichen Vereinigung, Geburtsjahr 2018), mit deutlichen Schwankungen zwischen den einzelnen Bundesländern.
Die Geschichte der Polio-Impfung in Deutschland
In Deutschland gab es bei den Polio-Epidemien 1953 und 1954 Tausende Polio-Fälle mit fast 10.000 Toten. Am häufigsten traf es Kinder und Jugendliche. Die seit 1957 verfügbare Impfung mit dem Totimpfstoff via Spritze (IPV) wurde von der bundesdeutschen Bevölkerung kaum angenommen.
Am 5. Februar 1962 führte der Freistaat als erstes Bundesland eine flächendeckende Schluckimpfung mit dem Lebend-Impfstoff (OPV) durch. Der bekannte Slogan: "Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam." Der damalige Innenminister Alfons Goppel trank mit den Worten "Der Trunk schmeckt gut" das Zuckerwasser mit den Erregern. Nach der Kampagne gingen die Erkrankungszahlen deutlich zurück.
Im Video: Die Geschichte der Polio-Impfung
Keine Schluckimpfung mehr: Totimpfstoff statt Lebendimpfstoff
In Deutschland ist seit 1992 keine Polio-Infektion mehr aufgetreten. Die früher übliche Schluckimpfung mit einem Lebendimpfstoff gibt es hierzulande nicht mehr. Seit 1998 wird mit einem Totimpfstoff gegen Polio geimpft, der gespritzt wird. So werden die Krankheitsausbrüche durch einen Lebendimpfstoff verhindert. Die Polio-Impfung ist heute Teil der Kombinationsimpfungen für Kleinkinder.
Einen kompletten Schutz vor Kinderlähmung gibt es durch vier Impfdosen, die innerhalb der ersten zwei Lebensjahre in Kombination mit anderen Schutzimpfungen erfolgen sollten. Im Alter von 9 bis 17 Jahren sollte die Polio-Impfung dann noch einmal aufgefrischt werden. Danach wird sie nur noch bei Reisen in Risiko-Ländern empfohlen. Erwachsene sollten ihren Impfstatus überprüfen lassen. Die Kombinationsimpfstoffe sind gut verträglich.
Wie wird Kinderlähmung übertragen und welche Symptome hat eine Polio-Erkrankung?
Das Poliovirus wird hauptsächlich fäkal-oral übertragen. Schon kurz nach Infektionsbeginn kommt es zu massiver Virusreproduktion im Darm, sodass infektiöse Viren via Darm ausgeschieden werden. Auch im Rachen kann sich das Virus vermehren und über den Luftweg verbreitet werden. Schlechte hygienische Verhältnisse begünstigen die Ausbreitung von Poliovirus-Infektionen.
In den allermeisten Fällen verläuft die Krankheit ohne Symptome. Vier bis acht Prozent haben leichte Beschwerden wie Fieber, Schnupfen, Darmentzündung und Abgeschlagenheit. Dazu können Nackensteife, Rückenschmerzen und Muskelkrämpfe kommen. Ist auch das Zentralnervensystem von der Infektion betroffen, entwickeln sich Lähmungserscheinungen an Armen und Beinen sowie der Atmung bis hin zum Ersticken. Dies ist bei circa einem Prozent der Infizierten der Fall.
Spätfolge Post-Polio-Syndrom
Eine tückische Spätfolge der Krankheit ist das sogenannte Post-Polio-Syndrom. Diese trifft Jahre bis Jahrzehnte nach der ersten Erkrankung 25 Prozent der Patienten. Sie ist gekennzeichnet durch Muskelschwäche und Muskelschwund. Die Betroffenen leiden oft unter Schmerzen in Muskeln und Gelenken, Müdigkeit, vermehrtem Frieren und Nervenschmerzen.
In Deutschland leben rund 30.000 Menschen im Erwachsenenalter, die unter den Folgen einer Kinderlähmung leiden.
Rückblick: Kinderlähmung in den USA 2022
Durch die Verbreitung von Polioviren oder Impfviren durch Schmierinfektionen kann es auch in Ländern zu Poliofällen kommen, die eigentlich als Polio-frei gelten. Die USA zum Beispiel waren im vergangenen Jahr in den Schlagzeilen. Dort gab es seit fast einem Jahrzehnt keinen Fall von Kinderlähmung mehr, im Bundesstaat New York sogar schon seit mehr als 20 Jahren nicht mehr. Doch gerade da erkrankte im Sommer 2022 ein junger Mann an Polio. "Wenn man einen Polio-Erkrankten mit Lähmungen hat, weiß man direkt, dass es ein größeres Problem gibt", erklärte Polio-Expertin Diedrich vom Robert Koch-Institut (RKI) damals. Denn nur in etwa einem von 200 Fällen führe eine Infektion zu den für Polio typischen irreversiblen Lähmungen - und das zudem nur bei Ungeimpften. Ein solcher Fall kann daher hunderte Infizierte ohne Symptome in der Region bedeuten.
Auch im Abwasser konnten sowohl im Bundestaat New York als auch in vier weiteren Counties Polioviren nachgewiesen werden. Zugleich war die Impfquote dort stellenweise sehr gering und lag nur bei 60 Prozent. New York rief daraufhin am 9. September 2022 den Katastrophenfall aus, weil es eine Verbreitung der Polio-Viren befürchtete. Die Bürger wurden aufgerufen, sich impfen zu lassen. Rund ein Jahr nach dem wiederholten Nachweis von Polioviren im US-Bundesstaat New York scheint der Ausbruch weitgehend eingedämmt, aber das Risiko bleibt und Impfungen sind weiter dringend nötig.
Im Video: Polio in den USA
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Dieser Artikel ist erstmals am 23.10.2019 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel aktualisiert und erneut publiziert.
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