Laut einem Forschungsteam aus den USA und Australien weisen die Ergebnisse einer Analyse von Schwamm-Skeletten im Karibischen Meer darauf hin, dass die Erderwärmung bereits in den 1860er-Jahren begonnen hat. Die im Fachjournal "Nature Climate Change" veröffentlichte Studie verortet damit den Beginn der Erderwärmung etwa ein Jahrhundert früher, als die bisherigen Annahmen des Weltklimarats (IPCC) gezeigt hatten.
Neue Studie: Bereits 1,7 Grad über dem vorindustriellen Niveau
Der Weltklimarat datiert den Beginn der Erderwärmung auf etwa die Mitte des 20. Jahrhunderts. Dabei geht der IPCC nämlich von einer vorindustriellen Referenzperiode aus, die er auf den Zeitraum zwischen 1850 und 1900 festsetzt. Die IPCC-Forschenden nutzen die Klimadaten dieser Zeit als Grundlage, um zu berechnen, wie stark die Temperaturen bisher angestiegen sind. Die Studienautorinnen und -autoren aber kritisieren das. Denn die globale Durchschnittstemperatur habe sich bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts erhöht. Heute läge sie somit schon 1,7 Grad über dem vorindustriellen Niveau - im Gegensatz zu den bisherigen Schätzungen des Weltklimarats von 1,2 Grad.
Meerestemperatur: Schwamm-Skelette ermöglichen Messungen
Für die Studie wurden Skelette von "Ceratoporella nicholsoni", einer Korallen-Schwammart, untersucht. In der Nähe von Puerto Rico sammelten die Forschenden zunächst Schwamm-Proben und zogen dann anhand des Verhältnisses von Kalzium zu Strontium in den Skeletten Schlussfolgerungen über die umgebende Meerestemperatur seit dem 18. Jahrhundert. Solche sogenannten Proxy-Daten gelten als genauer als frühere Temperaturmessungen. Das ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass es erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts direkte Messungen der Meeresoberflächentemperatur gab und diese Messungen nur begrenzt durchgeführt wurden.
Experten-Kritik: Begrenzte Aussagekraft der Daten
Jedoch äußern sich mittlerweile mehrere Experten kritisch zu der Studie. Jochem Marotzke, Direktor der Forschungsabteilung Ozean im Erdsystem am Max-Planck-Institut für Meteorologie, sieht das Problem dabei unter anderem in der begrenzten Aussagekraft der Daten: "Die Arbeit liefert keinerlei schlüssigen Belege dafür, dass die Schwammskelette an einem einzigen Ort etwas über die globale Mitteltemperatur aussagen." Dass sich die Welt also bereits um 1,7 Grad erwärmt habe, diese Behauptung sei seiner Meinung nach auf Grundlage der vorgelegten Daten unhaltbar.
Mojib Latif: Diskussion sei "etwas akademisch"
Mojib Latif, Meteorologe und Klimaforscher vom Geomar, betont an dieser Stelle, dass die Debatte um die Festlegung der vorindustriellen Zeit schon länger im Gange sei: "Ich finde die ganze Diskussion etwas akademisch. Meiner Meinung nach ist es auf der Erde bereits viel zu warm, egal, ob wir nun 'offiziell' noch unter oder doch schon über 1,5 Grad Celsius stehen." Sowieso seien die Pariser Klimaziele nur als grobe Richtschnur zu verstehen: "Denn es gibt eine große Unsicherheit bezüglich der Temperaturschwelle, die wir nicht überschreiten sollten", sagt Mojib Latif.
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Laut dem letzten IPCC-Bericht wird die Zeit im Kampf gegen den Klimawandel sowieso schon zunehmend knapp. So muss der Ausstoß von Treibhausgasen laut Weltklimarat bis in die 2030er-Jahre halbiert werden. Die Auswirkungen der bereits vorhandenen globalen Erwärmung sind laut Mojib Latif schon jetzt katastrophal. Jedenfalls können Diskussionen über Zehntelgrade dabei auch von der Dringlichkeit des Handelns ablenken.
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