Die Pubertät ist an sich schon eine komplizierte Zeit. Der Körper verändert sich, die Hormone spielen verrückt, man möchte cool sein und gleichzeitig akzeptiert und gemocht werden: von Freunden, von der Familie, an der Schule. Ein Kind, das sich mit dem Geschlecht, mit dem es geboren wurde, unwohl fühlt, erlebt noch eine viel tiefere Verunsicherung: Es fühlt sich in einem "falschen" Körper, der sich auch noch in eine "falsche" Richtung entwickelt.
Neue Leitlinie will Jugendliche vom Stigma befreien
Das Risiko, Ängste zu entwickeln oder in eine depressive Phase zu geraten, ist bei diesen Kindern besonders hoch. Wenn dann noch Unverständnis und ein diskriminierendes Umfeld dazu kommen, kann der Leidensdruck die Betroffenen in eine regelrechte Krise stürzen.
In den vergangenen fünf bis zehn Jahren ist die Zahl der Jugendlichen, die sich nicht mit ihrem Geschlecht identifizieren, deutlich angestiegen. Viele von ihnen suchen ärztliche Hilfe. Doch wie sieht ein gutes medizinisches Angebot aus? Eine neue Leitlinie gibt dazu Empfehlungen. Sie wurde in den letzten sieben Jahren von 27 Fachgesellschaften sowie zwei Vertretungsorganisationen von Behandlungssuchenden ausgearbeitet und soll in Deutschland, Österreich und der Schweiz gültig sein.
Geschlechtsinkongruenz ist keine Krankheit
"Die Kinder und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz sind ja da, sie waren schon immer da, aber es gab früher keine Anlaufstellen", erklärt Mitautorin der Leitlinie und Psychologin Dagmar Pauli. "Und die Fachpersonen, die in diesem Bereich nicht so die Expertise haben, brauchen Anhaltspunkte, um zu wissen, wie sie bestmöglich mit der Thematik umgehen und diese Jugendlichen begleiten können."
Dazu gehört zunächst ein akzeptierender und sensibler Umgang mit den Betroffenen. Wichtig sei es, die Kinder und Jugendlichen nicht zu pathologisieren, also als krank zu bezeichnen, nur weil sie sich in ihrem Körper unwohl fühlen. Vielmehr gilt es zu unterscheiden - zwischen einer Geschlechtsinkongruenz und einer Geschlechtsdysphorie. Wenn ein Kind sich nicht mit dem anatomischen Geschlecht, mit dem es geboren wurde, identifizieren kann, spricht man von Geschlechtsinkongruenz. Diese ist keine Krankheit. Allein wenn daraus anhaltende psychische Leiden entstehen, werden diese als krankhaft bezeichnet, dann sprechen Wissenschaftler von einer Geschlechtsdysphorie. Auch die Geschlechtsdysphorie gilt bisher jedoch nicht als psychische Erkrankung, daher gibt es keine Indikation für eine Psychotherapie.
Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Selbstbestimmung
Es ist ein existentieller Schritt, sich für ein Geschlecht zu entscheiden. Kinder und Jugendliche angemessen auf dem Weg dahin zu begleiten, ist für Erwachsene nicht einfach. Eltern oder Sorgeberechtigte stehen vor einer Gratwanderung, erklärt Medizinethikerin Claudia Wiesemann. "Als Eltern haben wir natürlich eine Fürsorgepflicht unseren Kindern gegenüber", sagt die Expertin. "Aber auch das Fachpersonal hat die Pflicht, die Kinder oder die Jugendlichen vor fehlerhaften Entscheidungen, vor Schaden an ihrem Körper und ihrer Seele zu schützen."
Diese Aufgabe werde in Diskussionen über medizinische Behandlungen, wie etwa beim Einsatz von Pubertätsblockern, stark betont. Gleichzeitig dürften die Erwachsenen nicht einfach über die Wünsche von Kindern und Jugendlichen hinwegsehen: "Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper beginnt nicht erst mit dem Alter von 18 Jahren, das haben auch Kinder und Jugendliche", sagt Mitautorin der Leitlinie Claudia Wiesemann. Die Medizinethikerin verweist dabei auf das Bundesverfassungsgericht, das die geschlechtliche Identität zu den höchstpersönlichen Angelegenheiten erklärt hat, über die nur das Individuum zu entscheiden hat. Aufgabe des therapeutischen Teams sei es, ein Kind oder einen Jugendlichen in die Lage zu versetzen, selber eine Entscheidung zu treffen.
Umstritten: Der Einsatz von Pubertätsblockern
Besonders intensiv diskutierten die Autorinnen und Autoren der Leitlinie über den Einsatz von Pubertätsblockern. Denn die Sicherheit und Wirksamkeit dieser Hormonbehandlung sind wissenschaftlich noch kaum belegt. Für die Erarbeitung verlässlicher Studien müssten viele Jugendliche behandelt werden, "am besten randomisiert und doppelblind, um das wissenschaftlich ganz sauber zu machen", sagt Kinderarzt Achim Wüsthof. Das sei ihm zufolge jedoch nicht umsetzbar - auch aus ethischen Gründen. Deswegen müssten die Ärzte sich mit den Verlaufsbeobachtungen begnügen und gucken, wie es den Kindern und Jugendlichen geht, die behandelt werden. "Und da gibt es schon klare Hinweise darauf, dass sie davon profitieren", stellt Achim Wüsthof fest.
Pubertätsblockaden würden nur selten eingesetzt, nach einer sorgfältigen Beurteilung und nur wenn der oder die Betroffene dazu fähig ist, selbst einzuwilligen. Wichtig sei es, dass eine Pubertätsblockade nicht präventiv eingesetzt würde, sagt Achim Wüsthof. Man müsse warten, bis die Pubertät de facto begonnen hat. "Der Körper muss tatsächlich schon ein bisschen die Sexualhormone spüren", das sei eine wichtige Erfahrung für die Jugendlichen, "dass man auch spürt, nein, das ist wirklich das Falsche für mich."
Manche Jugendliche versöhnen sich in dieser Phase auch wieder mit dem eigenen Körper, solche Fälle gibt es auch. Der Vorteil von Pubertätsblockern: Die Betroffenen gewinnen Zeit, um sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie es mit ihnen weiter gehen soll. Die Veränderungen des Körpers durch die Pubertät werden hinausgezögert. Für Dagmar Pauli ist es eine Frage der Erwägung. "Ich kann auch Schaden anrichten, wenn ich eine zur Verfügung stehende Behandlung nicht gebe", erklärt die Kinder- und Jugendpsychologin. "Weil wir ja wissen, dass viele von diesen Jugendlichen sehr belastet sind."
Zurzeit befindet sich die neue Leitlinie für eine bessere Versorgung von trans Jugendlichen noch in der Kommentierungsphase. Die Veröffentlichung ist für Juni geplant.
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