In etwa 30 Ländern Afrikas, des Mittleren Ostens und Asiens sind mehr als 200 Millionen Mädchen und Frauen von weiblicher Genitalverstümmelung, der Female Genital Mutilation (FGM), betroffen, so die Weltgesundheitsorganisation WHO. Jedes Jahr kommen weitere 4 Millionen Mädchen hinzu, so die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW).
Die chirurgischen Eingriffe werden oft mit Scherben, stumpfen Rasiermessern und abgewetzten Metallschneiden durchgeführt. Doch nicht nur die Ausrüstung, sondern auch der Ablauf weiblicher Beschneidungen ist primitiv: Ohne Betäubung und Desinfektionsmittel werden die jungen Mädchen beschnitten. Sie sind zu diesem Zeitpunkt in der Regel zwischen 6 und 13 Jahre alt, aber sie können auch deutlich jünger oder älter sein. Eine Schande für die Familie ist es, wenn die Mädchen beim Eingriff schreien.
Was passiert bei einer Genitalbeschneidung?
Bei einer Beschneidung werden die Klitoris oder die Klitoris und die inneren und äußeren Schamlippen komplett entfernt. Im Extremfall wird die Vagina anschließend bis auf ein kleines Loch für Urin und Menstruationsblut zugenäht. Danach werden die Beine tagelang zusammengebunden, damit die Wunde besser heilen kann. Nach der Beschneidung gelten die Mädchen als erwachsen und heiratsfähig.
Beschneidungsarten
- Sunna: eher selten, mit der männlichen Beschneidung vergleichbarer Eingriff. Die Vorhaut der Klitoris wird eingestochen oder entfernt.
- Exzision: häufigste Form der Genitalverstümmelung. Teilweise oder vollständige Entfernung der Klitoris sowie teilweise oder komplette Entfernung der Schamlippen.
- Infibulation oder pharaonische Beschneidung: diese extremste Form der Beschneidung wird bei etwa 15 Prozent der Eingriffe vorgenommen. Dabei werden die gesamten äußeren Genitalien entfernt und die Vagina bis auf eine maiskorngroße Öffnung mit Dornen, Nadeln oder Fäden zugenäht. Weil Urin und Menstruationsblut nur langsam abfließen können, kommt es häufig zu chronischen Entzündungen.
Folgen der Verstümmelung: Infektionen und Angstzustände
Zu den Folgen einer Genitalverstümmelung zählen schwere Blutungen, Verwachsungen, Infektionen, chronische Entzündungen, Harnwegsinfekte, lebensgefährliche Komplikationen bei Geburten, Unfruchtbarkeit, starke Schmerzen beim Geschlechtsverkehr und ein vermindertes sexuelles Empfinden. Aufgrund des traumatischen Eingriffs leiden viele Frauen nach der Beschneidung an Depressionen und Angstzuständen. 25 Prozent der verstümmelten Frauen sterben sogar an den unmittelbaren und langfristigen Folgen, so die Schätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Das Bewusstsein ändert sich nur langsam
Nach Angaben von Plan International sind 30 Millionen Mädchen potenziell gefährdet, vor ihrem 15. Geburtstag beschnitten zu werden, wenn sich die Situation nicht ändern sollte. In den Ländern, in denen Genitalverstümmelung praktiziert wird, sind immer mehr Mädchen und Frauen dafür, sie abzuschaffen. Doch trotzdem ändert sich das Bewusstsein in der Gesellschaft dafür nur langsam. Das gilt auch für Einwandererfamilien in Deutschland.
Die Situation in Deutschland
Denn auch hierzulande werden Ärzte mit weiblichen Beschneidungen konfrontiert. Mit der globalen Migration ist diese menschenrechtsverletzende Tradition auch in Europa angekommen. Deutschland zählt zu den europäischen Ländern mit einer besonders hohen Anzahl an Mädchen und Frauen aus den Genitalverstümmelung praktizierenden Herkunftsländern.
"Es gibt keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Mädchen und Frauen in Deutschland von der Beschneidung betroffen sind. Die Organisation Terre des Femmes schätzt, dass mehr als 70.000 beschnittene Frauen in Deutschland leben, und weitere 20.000 Mädchen gefährdet sein könnten", schreibt Plan International.
Schwer nachvollziehbare Vorstellungen
"Die Frauen in meiner Sprechstunde wurden alle aus traditionellen Gründen beschnitten. Dies ist in vielen afrikanischen Ländern die Voraussetzung dafür, verheiratet zu werden, nur dann gelten die Mädchen als 'rein'. Dabei spielen auch für uns in Europa schwer nachvollziehbare Vorstellungen eine Rolle - etwa, dass die Klitoris ein wilder Stachel ist, der den Penis beim Geschlechtsverkehr verletzen kann. Oder dass die Schamlippen immer weiter wachsen, wenn man sie nicht beschneidet. Da Frauen in vielen afrikanischen Ländern davon abhängig sind, einen Ehemann zu finden, der finanziell für sie sorgt, haben sie oft keine Wahl." Cornelia Strunz, Oberärztin im "Desert Flower Center" am Krankenhaus Waldfriede in Berlin-Zehlendorf im Gespräch mit der Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) 2022
Aufklärung muss behutsam vorgenommen werden
Eine Aufklärung muss sehr umsichtig und vorsichtig vorgegangen werden, um die Menschen nachhaltig zu einer Abkehr von der Genitalverstümmelung zu bewegen. Viele Menschen, die aus den Ländern, in denen diese Praxis Tradition ist, nach Deutschland gekommen sind, stehen in diesem neuen Land vor vielen Herausforderungen. Ein offener Austausch ist oft nicht möglich. Deshalb gilt es, Druck herauszunehmen und Vertrauen aufzubauen.
Beschnittene Frauen müssen viel infrage stellen
Es bedarf vieler Gespräche und es braucht viel Zuspruch sowie Aufklärung, bevor Frauen in Deutschland den Schritt wagen, sich Hilfe zu holen. Das meint auch Fadumo Korn, die aus Somalia stammt und Dolmetscherin und Kulturvermittlerin in München ist. "Dieser Prozess braucht wirklich Zeit. Das kann sich eine nicht-betroffene Frau nicht vorstellen."
Betroffene müssen die Entscheidung der eigenen Mutter und ihre Traditionen infrage stellen. Sie müssen verstehen lernen, dass die Beschneidung trotzdem falsch war und sie das Recht haben, etwas dagegen zu unternehmen - zum Beispiel die Narbe der Beschneidung wieder öffnen zu lassen. Zu wissen, dass die Beschneidung in Deutschland nach dem Strafgesetzbuch verboten ist, gäbe diesen geflüchteten Frauen und auch ihren Männern, die sich gegen die Tradition stellen, wenigstens ein bisschen Rückendeckung, so Fadumo Korn. Aber trotzdem schafften es bisher nur wenige.
NALA: Beratungsstelle in München
Fadumo Korn klärt auf, geht in Aufnahmeeinrichtungen, begleitet Frauen auf Behörden und zur Ärztin. Besonders am Herzen aber liegen ihr die Gruppen geflüchteter beschnittener Mädchen, die sie in München in ihrem Verein NALA betreut. Der Verein bietet auch eine Hotline an, in der in mehreren Sprachen Hilfe und Beratung angeboten wird. NALA übrigens ist Kisuaheli und bedeutet Löwin.
Tradition statt Religion
Mädchenbeschneidungen beruhen auf Wertvorstellungen, nicht auf religiösen Vorgaben. Die Genitalverstümmelung ist eine tiefverwurzelte Tradition und wird in einigen Regionen seit über 5.000 Jahren praktiziert. Religiöse Hintergründe hat die Praxis nicht, denn weder im Koran noch in der Bibel gibt es Hinweise darauf. Anhänger verschiedener Religionen - vom Christentum über den Islam bis zu lokalen Religionen - praktizieren die Genitalverstümmelung.
Unbeschnitten gilt als unrein
Nur beschnittene Frauen haben in den Ländern, in denen Genitalverstümmelung praktiziert wird, eine Chance auf dem Heiratsmarkt. Sie gelten als "reine" Frauen. Nicht beschnitten zu sein, bedeutet, ausgeschlossen und ausgestoßen zu sein. Daher lassen auch Frauen, die selbst eine Genitalverstümmelung durchlitten haben und von den Qualen wissen, ihre Töchter beschneiden.
Ein Umdenken findet nur sehr langsam statt
In der jüngeren Generation fangen manche ganz langsam an, diese jahrtausendealte Tradition der Beschneidung zu hinterfragen. Für diese jungen Leute ist der Brauch sinnentleert. Sie glauben nicht mehr daran, dass sich der Mann an der Klitoris vergiften und impotent werden kann, dass das Baby im Kontakt mit ihr einen Wasserkopf bekommt, dass die Beschneidung eine Frau vor ihrer eigenen Sexualität schützt. Zu dieser jungen Generation gehört auch, dass die Männer überhaupt wissen, was den Frauen angetan wird. Bei diesem Umdenken wird aber ein Gefälle zwischen Stadt und Land deutlich. In Dörfern wird die Genitalverstümmelung immer noch nicht hinterfragt und weiter praktiziert.
Genitalverstümmelung: oft verboten, aber nicht umgesetzt
Obwohl Genitalverstümmelungen inzwischen in vielen afrikanischen Ländern verboten sind, wie zum Beispiel in Ägypten, Senegal, Benin, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Somaliland oder Eritrea, werden sie im Geheimen weiter vorgenommen. Häufig scheitert das Gesetz an der Umsetzung. Die größte Herausforderung ist es, die Menschen zu überzeugen. Dazu ist viel Aufklärung und konkrete Unterstützung nötig, damit diese grausame Praxis beendet wird.
6. Februar: Internationaler Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung
Das "Inter-African Committee on Traditional Practices Affecting the Health of Women and Children" (IAC) rief 2003 den "Internationalen Tag der Nulltoleranz gegen weibliche Genitalverstümmelung" aus. Der Gedenktag am 6. Februar soll auf die Menschenrechtsverletzung an Frauen aufmerksam machen. Die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen (UNO) erklärte den 6. Februar schließlich zum internationalen Gedenktag.
Dieser Artikel ist erstmals am 5. Februar 2020 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel aktualisiert und erneut publiziert.
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