Sechs Männer im Vorgarten. Sie tragen weiße Polo-Hemden, darüber graue, großkarierte Pullunder. Sie mähen den Rasen ihrer Vorgärten, grillen Käseknacker und amüsieren sich über den Klatsch und Tratsch aus der Wochenendzeitung. So beginnt das neue Rammstein-Video zum Song "Angst". Doch schon nach wenigen Sekunden wird die spießbürgerliche Garten-Welt eingerissen und in schwarz-weiß-rotes Licht getaucht.
Schwarz-weiß-rot sind die Farben der deutschen Reichsflagge, Nazis und Reichsbürger tragen sie gerne. Dass Rammstein diese Beleuchtung gewählt haben – kein Zufall. Denn eigentlich sind die harmlosen Spießer im Song miese Rassisten, die bald schon eine Mauer und Stacheldraht um ihre Vorgärten gezogen haben und anschließend zur Maschinen-Pistole greifen. Aus Angst vor'm schwarzen Mann.
Dekonstruktion deutscher Tugenden
Aber es wird nicht verraten, wer der schwarze Mann ist. Rassismus-Kritik ist die naheliegende Interpretation, aber es könnte genauso gut die Angst vor Stadt-Menschen gemeint sein, oder vor Land-Menschen, vielleicht sogar vor Virologen oder FDP-Politikern. Im Grunde ist es auch egal: Wenn genug Angst im Spiel ist, wird der Spießer zum Monstrum und greift im schlimmsten Fall zur Waffe.
Fans dürfen sich auf dem neuen Album "ZEIT" wieder über düstere Musik, Spielereien mit Militarismus und die Dekonstruktion deutscher Tugenden freuen. Schließlich haben Rammstein schon immer über die Schattenseiten der Gesellschaft gesungen. Das einprägsamste Beispiel: Der größte Rammstein-Hit "Du hast", der davon erzählt, wie heuchlerisch das Versprechen "Bis, dass der Tod uns scheidet" sein kann. In den neuen elf Songs besinnen sich Rammstein anders als im Vorgänger-Album aber wieder stärker auf ihre politische Haltung. Und die Kritik am bürgerlichen Lebensstil wird so stringent und so eindeutig wie selten durchgezogen. Das sind: "Alles Lügen", heißt es.
Gegen toxische Männlichkeit und Frauenfeindlichkeit
Ja, das auf der Wiese Liegen, klassische Musik hören, fünf Tage die Woche acht Stunden zu arbeiten, am Wochenende mit den Freunden einen trinken gehen … alles gar nicht so harmlos, wie es aussieht. Nicht selten steckt dahinter eine große Portion Doppelmoral. Die Themen des neuen Albums: Häusliche Gewalt, Schönheitswahn fürs Instagram-Profil, die Sucht nach dem Gift, oberflächliche Sex- oder Arbeitslust, toxische Männlichkeit, Rassismus oder Frauenfeindlichkeit auf Volksfesten.
"Dicke Titten" ist mit seinem ohrwurmtauglichen Refrain, getragen von einem "Lebt denn der alte Holzmichl noch"-Blasmusik-Beat ein Highlight der Platte. Wahrscheinlich auch, weil die Starkbier-Zeit beginnt und sich alle daran erinnern, worum es den Schürzenjägern im Festzelt meistens geht: Um Frauen, deren Vorbauten aussehen müssen wie umgekehrte Lebkuchenherzen. Auf die alten Tage, immerhin gehen Till Lindemann und Co auf die 60 zu, ist da allerdings auch viel Unbehagen mit der Entwicklung der Gesellschaft, manchmal vielleicht zu viel.
Eindeutige politische Haltung
Ihrer eigenen Alters-Melancholie begegnen sie mit Ironie. Ein Beispiel: Der Titel-Song "Zeit" besingt die guten alten Tage, wie aus der Jugend Not wird und wie die Zeit die schönen Momente gnadenlos auffrisst. Man möchte sich am liebsten vergraben sehen, doch drei Songs später stellt "Zick Zack" wieder alles auf den Kopf. Da wird die Lösung gegen das Altwerden präsentiert: "Bauchfett in die Biotonne, dann sieht der Penis wieder Sonne".
Man kann die Songs auf der neuen Platte eigentlich gar nicht mehr falsch verstehen. Und vielleicht werden einige enttäuscht sein, dass Rammstein mit "ZEIT" eindeutiger politisch Farbe bekennen als früher. Aber genau deshalb passt das Album auch zu einer mehr und mehr politisierten Welt. "ZEIT" ist eine gelungene Platte für den Zeitgeist – und eine vielleicht letzte Rammstein-Abrechnung mit den Idealen der bürgerlichen Gesellschaft.
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