Sexueller Missbrauch: Betroffene warten oft Jahrzehnte auf Entschädigung.
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Sexueller Missbrauch: Betroffene warten oft Jahrzehnte auf Entschädigung.

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Anerkennung von Leid durch Missbrauch: Reine Glückssache?

Anerkennung von Leid durch Missbrauch: Reine Glückssache?

Zwei Brüder. Beide im selben Heim in München aufgewachsen. Beide missbraucht. Aber nur einer erhält finanzielle Entschädigung. Denn er hatte damals eine andere Adresse. Wird sexueller Missbrauch abhängig vom Wohnort finanziell anerkannt oder nicht?

Über dieses Thema berichtet: STATIONEN am .

Die Stadt München hat seit 2021 eine Kommission, die dafür zuständig ist, Fälle von körperlicher und sexueller Gewalt in Münchner Heimen aufzuarbeiten. Dabei geht es um Anerkennung des Leids, aber vor allem um Soforthilfe und finanzielle Entschädigung der Betroffenen.

"Missbrauch gibt es überall, wo es Kinder gibt"

Ignaz Raab leitet die Aufklärungskommission. Er berichtet vom Fall zweier Geschwister, beide Missbrauchsbetroffene im selben Heim, die allerdings an unterschiedlichen Wohnorten gemeldet waren. "Der eine Bruder, der als Junge in München gemeldet war, kann jetzt mit Anerkennungsleistungen rechnen. Sein Stiefbruder geht leer aus, weil die Kommune, in der er gemeldet war und die ihn in das Heim schickte, nicht aufarbeiten will", sagt Raab. Er fordert den Freistaat Bayern auf, endlich für eine landesweite Pflicht zur Aufarbeitung zu sorgen.

Sozialministerium: Aufklärung bleibt Sache der Täterorganisationen

Doch das zuständige Sozialministerium lehnt ab:

"Eine von außen auferlegte gesetzliche Verpflichtung – soweit es nicht um finanzielle Leistungen geht – ist nicht zielführend. Aufarbeitung und Entschädigung sind Aufgabe und Verpflichtung der Träger der betroffenen Einrichtungen und der Kommunen." Bayerisches Sozialministerium auf BR-Anfrage

Würden Kommunen vom Staat verpflichtet werden, proaktiv Missbrauchsfälle aufzuarbeiten, kämen viele neue Fälle ans Tageslicht. Für die Münchner Sozialreferentin Dorothee Schiwy (SPD) ist deswegen klar: "Aus meiner Sicht ist es einfach die Scheu vor einer großen Auseinandersetzung mit vielen Protagonisten, was viel Arbeit macht und eben die monetäre Verpflichtung, die damit einhergehen wird."

Schiwy findet, man dürfe es nicht den Täterorganisationen überlassen, ob sie aufarbeiten oder nicht. Kinderschutz sei Staatsaufgabe. Deshalb hat sich die Landeshauptstadt entschieden, Betroffenen von Missbrauch in ihren Kinderheimen Anerkennungsleistungen zu zahlen. Als bislang einzige Kommune in Deutschland arbeitet sie auf.

Sexueller Missbrauch: Menschen leiden ihr Leben lang

Benno Oberleitner ist Mitglied im Betroffenenbeirat der Stadt München. Er kommt als Zehnjähriger ins "Münchner Kindlheim", das war 1966. Dort wird er in einer Lehrlingsgruppe untergebracht – mit deutlich Älteren. Alle paar Tage sei er vergewaltigt worden, erzählt er. "Der Erzieher hat zugeschaut. Der hat die Tür zugemacht, und ist wieder weitergegangen. Und ich hatte Angst", erzählt Oberleitner.

Er erlebt neben sexueller auch körperliche Gewalt – unter anderem zwei Nasenbeinbrüche, die ihm Erzieher zufügten. Als Jugendlicher rutscht er sogar in die Kriminalität ab, schafft aber den Ausstieg und schließt seine Ausbildung ab.

Die Anerkennungszahlungen für das erlittene Unrecht kann er dringend brauchen – eine große Hilfe auch für die anderen Betroffenen in München, deren Leben zerstört wurde. "Das ist eine tolle Unterstützung. Dadurch sind mir auch meine Existenzängste genommen worden." Insgesamt 35 Millionen Euro hat die Stadt München zur Verfügung gestellt.

Oberleitners Antrag auf Anerkennungsleistungen läuft. Er ist guten Mutes, dass es auch zur Auszahlung kommt – rund 50 Jahre, nachdem der Missbrauch begann. 

Mehr zum Thema "Missbrauch - Aufarbeitung oder Stillstand?" in der Sendung STATIONEN in der ARD Mediathek.

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