Zwei Kampfjets vom Typ Eurofighter zünden ihre Triebwerke, donnern über das Rollfeld in den grauen Himmel über dem Fliegerhorst Lechfeld bei Augsburg. Es ist Mitte Mai. Auf dem Lechfeld laufen in diesem Moment die Vorbereitungen für "Air Defender": Das größte Luft-Verlege-Manöver seit Bestehen der NATO steht kurz bevor.
Geübt werden soll, Deutschland als Drehscheibe für Luftstreitkräfte zu nutzen, sagt Oberstleutnant Swen Jacob. Um auf einen fiktiven Angriff zu reagieren, werden Hunderte Militärmaschinen aus unterschiedlichen Nationen auf verschiedenen Flugplätzen in der Bundesrepublik zusammengezogen. Jacob ist als stellvertretender Geschwader-Kommodore des Jagdgeschwaders 74 aus Neuburg an der Donau für die Vorbereitungen auf dem Lechfeld verantwortlich. Für ihn und viele andere Teilnehmer ist Air Defender eine Übung, mit der die Militärs auf die veränderte Sicherheitslage in Europa reagieren.
Übung für die einen – Ernst für die anderen
Anders ist das bei Fabian Forster. Auf dem Fliegerhorst schreitet er den stacheldrahtbewehrten Zaun ab, eine Kartenmappe in der Hand. Seine Einheit ist für die Bewachung des Flugplatzes zuständig und führt deshalb scharfe Waffen mit sich. Das Besondere: Die Einheit besteht aus Reservisten. Auch Fabian Forster ist Reservist. Im Zivilberuf arbeitet er als Verwaltungsjurist.
Wenn er Uniform trägt, führt er als Reserveoffizier einen Zug der Heimatschutzkompanie Schwaben. Die Teilnahme an der Übung sei eine gute Möglichkeit zu zeigen, wofür die Einheit ausgebildet wurde, sagt Forster. Das sei "motivierend". Schließlich sei Air Defender "kein alltäglicher Einsatz".
Doch für die Reservisten unter Forsters Kommando ist das Luftwaffenmanöver weit mehr als das: Es ist eine Premiere.
Eine der Aufgaben der Reserve wird deutlich
Auf dem schwäbischen Flugplatz wird eine der Aufgaben der Reserve deutlich, die wieder mehr Gewicht bekommen soll: Damit sich die aktiven Soldaten im Bündnis- oder Verteidigungsfall um anderes kümmern können, sollen Reservisten ihnen unter anderem Aufgaben abnehmen.
Flugplätze bewachen, Marschrouten von NATO-Truppen durch das Transit- oder "Drehscheibenland" Deutschland absichern. Dafür ist die Reserve angesichts der Sicherheitslage wieder verstärkt im Gespräch.
"Einsatzbereite Bundeswehr ohne Reserve undenkbar"
Ohne eine "einsatzbereite Reserve" sei eine "einsatzbereite Bundeswehr" aber undenkbar, sagt Fabian Forster nach der Übung. Bis dahin sei es noch ein weiter Weg. Die Bilanz von "Air Defender" ist in seinen Augen trotzdem "positiv".
Monate nach der Übung sitzt Forster in einem Augsburger Café und bestellt einen großen Cappuccino. Der 39-Jährige trägt jetzt ein blaues Hemd, einen grauen Wollpullover, Jeans. Er erklärt, warum er sein ziviles Outfit seit dem Grundwehrdienst im Jahr 2003 immer wieder gegen die Flecktarn-Uniform tauscht. Ihm gehe es um "Wirksamkeit". Um eine Tätigkeit, bei der er das Gefühl hat, "etwas tun zu können und einen Beitrag für die Sicherheit des Landes zu leisten".
Wehrpflicht ausgesetzt: Freiwilligkeit als Hürde
Forster hat ein ruhiges Eck in dem Café ausgesucht. Es ist Zeit, um über Grundsätzliches zu reden. Denn er ist nicht nur Reserveoffizier, er ist auch ehrenamtlicher Vorsitzender des Reservistenverbandes in Bayern – der Interessenvertretung der bayerischen Reservisten. In dieser Rolle bekommt er den Wandel gerade hautnah mit, den die Reserve der Bundeswehr durchlaufen soll – nach Jahren, in denen auch dort der Rotstift angesetzt wurde.
Denn einst war die Wehrpflichtigen-Armee Bundeswehr so aufgestellt, dass ehemalige Soldaten hätten herangezogen werden können, um die Stärke der Bundeswehr von gut 500.000 auf etwa 1,3 Millionen Mann zu erhöhen. Davon ist man heute weit entfernt. Den größten Teil der alten Strukturen und Einheiten, die mit Reservisten hätten aufgefüllt werden können, gibt es nicht mehr.
Die Probleme sind inzwischen erkannt. An ihrer Lösung wird gearbeitet, wie Strategiedokumente der Bundeswehr nahelegen.
Doch im Zuge der Wehrpflicht-Aussetzung im Jahr 2011 wurde auch der Dienst in der Reserve zu einer freiwilligen Angelegenheit. Anders als früher kann ein Reservist nicht mehr so einfach für eine Übung herangezogen werden. Einen Angestellten muss ein Arbeitgeber deshalb erst mal ziehen lassen. Das bleibe ein Kernproblem und mache es nicht leichter, die Reserve wieder besser aufzustellen, sagt Fabian Forster. Das Personal sei der Schlüssel: "Es bringt nichts, auf dem Papier Kästchen zu zeichnen und dort Reservisten hineinzusetzen. Entscheidend ist am Ende, wie viele kommen, wenn sie gebraucht werden."
Tausende Reservedienstleistende werden benötigt
Der Bedarf an Reservedienstleistenden ist tatsächlich groß. Dies geht aus einer Antwort der Bundeswehr auf eine Anfrage des Bayerischen Rundfunks hervor. Demnach sollen es 90.000 werden. Aktuell gibt es 39.000 Reservedienstleistende, die einem bestimmten Truppenteil oder Dienstposten zugeordnet sind. In diesen Fällen ist von einer Beorderung die Rede, weil sie auf einen bestimmten Posten zurückkehren und dort konkrete Aufgaben übernehmen.
Unterschieden wird innerhalb der Bundeswehr zwischen der Truppenreserve, der Territorialen Reserve sowie der Allgemeinen Reserve. Mit der Allgemeinen Reserve sind alle ehemaligen Soldatinnen und Soldaten gemeint, die nicht beordert sind, die aber als Reservisten Dienst leisten könnten. Das sind rund 877.000 Personen (Stand 30.6.). Diese Personengruppe könnte im Spannungs- oder Verteidigungsfall herangezogen werden.
Die Territoriale Reserve umfasst unter anderem die Heimatschutzkräfte der Bundeswehr, zu denen auch Fabian Forster gehört. Unter der Truppenreserve werden alle beorderten Reservisten zusammengefasst, die Verbände oder Organisationsbereiche unterstützen.
Über das seit Oktober 2021 greifende Instrument der Grundbeorderung sollen pro Jahr etwa 10.000 Reservedienstleistende gewonnen werden. Soldaten, deren Dienstzeit endet, werden auf diese Weise automatisch für einen Dienstposten in der Reserve eingeplant. Der Bedarf soll so gedeckt werden.
Für den Landesvorsitzenden des Reservistenverbandes, Fabian Forster, ist es in diesem Zusammenhang zentral, Menschen für diesen Dienst zu motivieren. Die Bundeswehr müsse niederschwellige Angebote machen, um Reservisten den Dienst zu erleichtern, fordert er: "Die Reserve muss etwas für ganz normale Bürger sein, die einen normalen Zivilberuf haben und sich ein paar Wochen im Jahr freischaufeln können, um in der Bundeswehr zu dienen."
Niederschwellige Angebote in Heimatnähe gefordert
Sich in der eigenen Region engagieren zu können – etwa bei den Heimatschutzkräften, zu denen er selbst zählt – ist in Forsters Augen ein wichtiger Aspekt. Auch weil die Anforderungen dort eher zu bewältigen sind: Zu trainieren, wie man einen Flugplatz bewacht, das geht leichter neben dem Zivilberuf, als bei modernen, hochkomplexen Waffensystemen auf dem aktuellen Stand zu bleiben.
Grundsätzlich aber müsse vieles schneller gehen, sagt der Landesvorsitzende des Reservistenverbandes. Insbesondere dann, wenn sich Interessenten melden, die nie gedient haben oder die vor vielen Jahren ausgeschieden sind aus der Bundeswehr. Mitunter dauere es viele Monate, bis Interessenten tatsächlich Reservedienst leisten könnten, bemängelt Forster. Die Bearbeitung der Anträge durch die Bundeswehr erfolge teils zu schleppend. Bei Personen, die aus einem zivilen Arbeitsumfeld kämen, sei das "besonders kritisch". Diese seien es mitunter gewohnt, dass es "schnell gehen kann, wenn man von einem Arbeitgeber angeworben werden möchte."
Ungediente in Uniform
Die Ausbildung Ungedienter für den Dienst in der Reserve wird nach Angaben einer Bundeswehrsprecherin in Köln beliebter. 2018 wurde damit in Bayern und Baden-Württemberg begonnen. Seit diesem Jahr bieten nahezu alle Landeskommandos diese Möglichkeit an.
Zu Beginn habe die Zahl der Interessenten im hohen zweistelligen Bereich gelegen, erklärt die Sprecherin. In den vergangenen drei Jahren sei sie auf einen mittleren dreistelligen Bereich angestiegen. Ob hierbei der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine eine Rolle spiele, lasse sich seitens der Bundeswehr nicht klären.
Material: Haben statt Leihen
Neben dem Personal bleibt die Frage nach dem Material und dessen Bewirtschaftung. Denn häufig müssen sich Einheiten der Reserve derzeit das zusammenleihen, was sie brauchen, um zu üben, berichtet Fabian Forster.
Überlegungen zu zentralen Materialdepots an bestimmten Orten könnten keine Abhilfe schaffen. Fahrzeuge und Gerät müssten in der jeweiligen Region verfügbar sein, damit der Aufwand für kürzere Ausbildungen überschaubar bleibt und Freiwillige vor einem Ausbildungswochenende nicht stundenlang fahren müssen. Forster hofft deshalb auf Besserung.
Mehr zu diesem Thema hören Sie im "Dossier Politik" vom 13.12. auf Bayern2. Zu Gast in der Sendung ist Eva Högl, die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages. Das Dossier Politik gibt es auch als Podcast. Zum Beispiel in der ARD-Audiothek.
Dieser Artikel ist erstmals am 13.12.2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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