Vor allem Gegner der Corona-Maßnahmen, Impfgegner und Querdenker haben in den vergangenen Wochen immer wieder zu sogenannten "Spaziergängen", wie sie es nannten, aufgerufen. Oft sind solche Proteste nicht angemeldet. Nur angemeldete Versammlungen seien aber durch das Grundgesetz abgesichert, heißt es von den Behörden. BR-Redakteur Jonas Miller beobachtet seit Beginn der Corona-Pandemie die Querdenken-Szene und ihre Proteste. Im Interview mit der Bayern2 regionalZeit erläutert er die Hintergründe der Spaziergänge.
Regionalzeit: Nehmen die Corona-Proteste derzeit wieder zu? Und wenn ja, woran liegt das?
Jonas Miller: Ja, es kommt derzeit zu mehr Protesten als im Sommer dieses Jahres. Teilweise wird zu rund 200 Corona-Protesten in ganz Bayern an einem Tag aufgerufen. Diese Proteste gibt es in unterschiedlicher Couleur seit Beginn der Pandemie. Gerade werden es mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer, was auch mit der Diskussion um eine Impfpflicht und Einführung der 2G-Regelungen zu tun hat. Oft finden diese Aufzüge in verschiedenen Städten statt, teilweise auch zeitlich versetzt, damit die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an mehreren Demonstrationen dabei sein können. Sie verfolgen damit das Ziel eine große Bewegung zu skizzieren. Immer wieder wird betont, dass es sich aber um eine kleine, aber sehr laute Minderheit handelt.
Oft heißen diese Proteste "Spaziergänge". Dabei sind doch Spaziergänge etwas anderes, weswegen nennen die Demonstranten diese dann Spaziergänge?
Natürlich handelt es sich dabei um keine klassischen Spaziergänge, sondern um geplante Proteste. Mit dem unschuldigen Begriff "Spaziergang" können sich aber viele Bürgerinnen und Bürger identifizieren, die vom Wort "Protest" oder "Demonstration" abgeschreckt sind. Zudem ist das auch gezielt eine Selbstverharmlosung der Protestform. In der Vergangenheit kam es bei solchen "Spaziergängen" immer wieder zu Gewalttätigkeiten, beispielsweise auf Polizeibeamte in Schweinfurt. Übrigens ist auch das Vorgehen, die eigenen Proteste als "Spaziergänge" zu bezeichnen, nicht neu. Das hat ab 2015 auch die rassistische Pegida-Bewegung getan.
Welches Problem ergibt sich für die Ordnungsbehörden, wenn die Demonstrationen nicht angemeldet werden?
Zuallererst benötigen die Ordnungsbehörden einen Anmelder und Versammlungsleiter für eine Demonstration, also einen Ansprechpartner. Weil Teile der Querdenken-Szene sich aber bei solchen unangemeldeten Demonstrationen weder eine Route vorschreiben lassen wollen, noch andere Einschränkungen wie Abstandsgebot oder Maskenpflicht hinnehmen möchten, melden sie diese gar nicht erst an. Sie mobilisieren die Szene aber teils tagelang zuvor in einschlägigen Telegram-Chatgruppen. Vor Ort erklären sie den Polizeibeamten dann, sie seien alle "zufällig" hier, würden nur "einkaufen" gehen wollen. Wenn es sich offensichtlich um eine nicht-angemeldete Demonstration handelt, könnten die Beamten auch einschreiten. Viele Städte weisen nun noch mal extra darauf hin, dass derlei Versammlungen angemeldet werden müssen. Auch Innenminister Joachim Herrmann (CSU) ermutigte Kommunen, derlei Spaziergänge zu verbieten.
Gestern zogen 1.300 Personen bei einer nicht-angemeldeten Demonstration durch Nürnberg. Der Einsatzleiter der Polizei sagt über Megaphon: "Wir möchten Ihnen Ihren Aufzug heute ermöglichen. (..) Folgen Sie den Anweisungen der Polizei und dann wird das sicher heute eine erfolgreiche Geschichte für Sie." Kann man so was wirklich noch einfach nur Deeskalation nennen? Wohlgemerkt, es war keine Demonstration genehmigt.
Das Vorgehen der Polizei in Nürnberg hat mich auch sehr gewundert. Vor allem weil Innenminister Herrmann die Kommunen ja bestärkt hat, gegen solche Proteste vorzugehen und schon im Januar 2021 ankündigte, nun härter gegen derlei Demonstrationen vorgehen zu wollen. In München hat die Polizei am Mittwochabend bei einer ähnlichen Lage komplett anders agiert und die Demonstranten nicht ziehen lassen, sondern gestoppt. Für die Querdenken-Szene war die Demonstration gestern in Nürnberg ein riesen Erfolg. Nun heißt es von manchen, man solle doch zukünftig einfach nach Nürnberg kommen, nicht mehr nach München.
Die Demonstranten behaupten, sie würden in einer Corona-Diktatur leben. Wie kommen sie denn darauf?
Dass auch die Demonstranten in keiner Diktatur leben, zeigt ja allein die Tatsache, dass sie nach einer ordnungsgemäßen Anmeldung frei demonstrieren können. Das Versammlungsrecht ist ein sehr hohes Gut und gehört zu unserer Demokratie, genauso wie die Meinungsfreiheit. Es ist auch vollkommen legitim, dass die Menschen sich zu solchen Demonstrationen versammeln. Manche Demonstranten haben teils aber nun zum ersten Mal mit Polizeibeamten zu tun, die ihnen auch mal sagen, dass sie nicht einfach dort demonstrieren können, wo es ihnen gerade passt. Wenn es bei einer Eskalation dann zum Einsatz von Schlagstöcken oder Pfefferspray kommt, wähnen sich manche tatsächlich in diktatorischen Verhältnissen. So werden Beamte auch als "Södolfs Söldner" beleidigt, um auch den Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) mit Diktator Adolf Hitler zu vergleichen.
Wie radikal ist denn diese Szene?
Das kann man pauschal nicht beantworten. Nicht alle Demonstranten sind gefährlich, Anhänger von Verschwörungsideologien, bezeichnen sich als "Freie Linke" oder sind rechtsextrem. Den Großteil kann man meist nicht politisch einordnen. Schon seit Monaten wurden aber demokratiefeindliche Inhalte auf Demonstrationen propagiert. Bei einer Querdenken-Demonstration in Nürnberg wurde beispielsweise ein Putsch gefordert. Politiker der damaligen Bundesregierung unter Angela Merkel wollte eine Rednerin einfach verhaften und wegsperren lassen – ohne einen Prozess, wie es sich für einen demokratischen Rechtsstaat gehört. Auch in den Chatgruppen beobachten wir eine deutliche Radikalisierung. Manchen geht es dabei um den Umsturz des demokratischen Systems.
Gerade wird über eine Impflicht diskutiert. Wird sich das auf die Proteste auswirken?
Wird es tatsächlich zu einer Impfpflicht kommen, werden diese Proteste sicherlich weiter zunehmen. Hier ist die Politik, aber auch die Gesellschaft gefordert, zu reagieren. Oft wird dabei von einer Spaltung der Gesellschaft gesprochen. Ich beobachte eher, dass radikale Impfgegner, radikale Querdenker und Rechtsextreme an einer Spaltung der Gesellschaft arbeiten. In Chatgruppen und auf Demonstrationen wollen sie Anhänger finden für ihre Ideologie. Das halte ich für gefährlich.
Wie stark ist der Einfluss von Rechtsextremen auf die Szene?
Organisierte Rechtsextreme machen in Bayern bei Corona-Protesten eher einen kleinen Teil der Demonstranten aus, obwohl sie gezielt für diese Proteste mobilisieren. Deren Einfluss auf die Szene darf aber nicht unterschätzt werden. Beispielsweise wurde für die Großdemonstration mit 12.000 Teilnehmern in Nürnberg auf Bitten des Demo-Anmelders hauptsächlich über einen einflussreichen Rechtsextremen mobilisiert. Auch bei großen Querdenken-Kundgebungen traten in der Vergangenheit immer wieder Personen auf, die zuvor beispielsweise bei Pegida aktiv waren. Gründer der Querdenken-Bewegung trafen sich in der Vergangenheit mit Reichsbürgern. Nach den gewaltsamen Protesten in Schweinfurt appellierte die Polizei an die Versammlungsteilnehmer: "Lassen Sie sich nicht von Rechtsextremisten, Reichsbürgern oder Antisemiten vereinnahmen". Wissenschaftler, Fachjournalisten und Sicherheitsbehörden warnen daher schon lange vor einer Radikalisierung der Szene.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht's zur Anmeldung!