Unter Befürwortern einer liberaleren Drogenpolitik war die Freude groß, als im Koalitionsvertrag zu lesen war: "Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken (...) ein." Seit den Koalitionsverhandlungen wird das Thema Drogenpolitik auf Social Media wieder besonders viel diskutiert - auch über eine Legalisierung von Cannabis hinaus.
Dabei ziehen Befürworter und Gegner einer Liberalisierung verschiedene Ländervergleiche für ihre Argumentation heran. Häufig von den Befürwortern genannt: In Bayern gäbe es trotz strengerer Drogenpolitik mehr Drogentote als in den Niederlanden, bei weniger Einwohnern. Stimmen die Zahlen?
Mehr Drogentote in Bayern als in den Niederlanden
Tatsächlich sind laut den offiziellen Zahlen des BKA sowie des niederländischen nationalen Drogenreports in den letzten Jahren mehr Menschen in Bayern an Drogen gestorben als in den Niederlanden - zumindest bis 2019. Für 2020 liegen noch keine Zahlen aus den Niederlanden vor, um sie mit Bayern zu vergleichen.
So gab es 2017 262 als Drogentote registrierte Fälle in den Niederlanden und 308 in Bayern (siehe Grafik 1). 2018 und 2019 war der Abstand geringer - aber noch immer waren es in beiden Jahren etwas mehr Fälle in Bayern (Zahlen für Niederlande 2018 und 2019, Zahlen für Bayern 2018 und 2019).
Grafik: Drogentote in absoluten Zahlen in den Niederlanden und Bayern
Nach absoluten Zahlen stimmt es also, dass es in Bayern mehr Drogentote gibt als in den Niederlanden. Aussagekräftiger als die absoluten Zahlen ist aber, wie viele Menschen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung in Folge eines Drogenkonsums gestorben sind.
Auch im Verhältnis zu den Einwohnern: Mehr Drogentote in Bayern
Im Fall von Bayern und den Niederlanden sieht es so aus: Bayern hat weniger Einwohner als die Niederlande - 2019 waren es zum Beispiel 13,12 Millionen in Bayern und 17,28 Millionen in den Niederlanden.
Wenn man berechnet, wie viele Drogentote es pro Million Einwohner in den jeweiligen Jahren gab, ist der Abstand zwischen den Ländern deshalb noch deutlicher. Während es in Bayern in den letzten Jahren zwischen 18 und 24 Drogentote pro Million Einwohner gab, waren es in den Niederlanden 15 oder weniger (siehe Grafik 2).
Grafik: Drogentote pro Million Einwohner in den Niederlanden und in Bayern
Die Zahlen zeigen also: Sowohl bei den absoluten Zahlen als auch im Verhältnis zur Bevölkerung starben in Bayern in den Jahren 2017 bis 2019 mehr Menschen an Drogen als in den Niederlanden.Um aus diesen Zahlen Schlüsse über Drogenpolitik zu ziehen, ist erst einmal wichtig, ob die Zahlen von Bayern aussagekräftig für Deutschland sind - denn deutschlandweit gilt der gleiche Gesetzesrahmen beim Thema Drogen. Außerdem ist wichtig, sich die Unterschiede in der Drogenpolitik von Deutschland, speziell Bayern und den Niederlanden anzusehen.
Bayern im deutschlandweiten Vergleich
Anders als in Bayern steigt deutschlandweit die Zahl der drogenbedingten Todesfälle seit 2017 laut der Statistik des BKA. (siehe Grafik 3).
Grafik: Drogentote in Deutschland
Schaut man sich die langfristige Entwicklung der Zahl der Drogentoten in Bayern an, zeigt sich in den letzten zehn Jahren ein Auf und Ab - mit einem Peak von den Jahren 2015 bis 2017 (siehe Grafik 4). Zu dieser Zeit starben zwischen 24 und 25,6 Prozent der Drogentoten Deutschlands in Bayern, während die Einwohner Bayerns in dieser Zeit nur etwa 15,5 Prozent Deutschlands ausmachten. Das heißt: Der Anteil der Drogentoten in Bayern war zu dieser Zeit überdurchschnittlich hoch.
Grafik: Drogentote in Bayern
Für Bayern wurden auch schon die Zahlen für 2020 veröffentlicht; Hier starben 248 Menschen an Drogen, 15 weniger als im Vorjahr (siehe Grafik 5). Umgerechnet sind das 19 Drogentote pro eine Million bayerische Einwohner, auch hier sieht man einen leichten Rückgang zum Vorjahr (2019: 20 pro 1 Mio. Einwohner). Im Ländervergleich der Drogentoten pro Millionen Einwohner liegt Bayern im Mittelfeld (siehe Grafik 6).
Der Anteil der Drogentoten in Bayern sank 2020 auf 15,6 Prozent aller registrierten Fälle in Deutschland, bei 15,8 Prozent Bevölkerungsanteil. Heißt: In den letzten Jahren starben in Bayern im Vergleich zu den deutschlandweiten Zahlen teilweise überdurchschnittlich, zuletzt durchschnittlich viele Menschen drogenbedingt. Dennoch nennen viele Experten den Freistaat häufig als negatives Beispiel, da es dort besonders großen Aufholbedarf bei Hilfsmaßnahmen für Drogenkonsumenten gäbe. Zum Beispiel weil es keine Konsumräume gibt und im Vergleich weniger Behandlungen mit Ersatzstoffen für Abhängige. Inwieweit das einen Einfluss auf die Drogentodeszahlen hat, lesen Sie im zweiten Teil der Recherche.
Grafik: Drogentote in Deutschland 2020
Grafik: Drogentote pro Million Einwohner
Bevor man aus den Zahlen der Niederlande und Bayern Schlüsse ziehen kann auf die Drogenpolitik, ist die Frage, wie aussagekräftig und verlässlich die Drogentodeszahlen überhaupt sind. Hier hilft ein Blick in die Statistiken der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA), die EU-weit Daten zusammenträgt.
EU-Vergleich: Nirgendwo starben so viele Menschen drogenbedingt wie in Deutschland
Schaut man sich Zahlen zu europaweit registrierten Drogentodesfällen an, zeigen sich große Unterschiede zwischen den Ländern. Beispielsweise starben in absoluten Zahlen zuletzt nirgendwo so viele Menschen an Drogen wie in Deutschland (siehe Grafik 7 rechts aus dem European Drug Report 2021). Bis zum Brexit führte Großbritannien die Statistik mit großemAbstand an (siehe Grafik 7 links aus dem European Drug Report 2020).
Grafik: Drogentote in Europa
Im Verhältnis Drogentote pro Million Einwohner wurden in den skandinavischen Ländern, Slowenien oder Irland zuletzt mehr Todesfälle als in Deutschland registriert (Grafik 8). Experten wie Dirk Schäffer, Referent für Drogen und Strafvollzug bei der Deutschen Aidshilfe, sprechen dennoch von eklatant hohen Zahlen angesichts dessen, dass Deutschland ein sehr reiches Land mit vielfältigen Hilfesystemen für Drogenabhängige ist - auch wenn die Zahl der Angebote in den Bundesländern variiert.
Grafik: Drogentote in Europa pro Million Einwohner
Wie verlässlich sind diese Zahlen?
Bei den Zahlen der registrierten Drogentodesfälle muss man mehrere Dinge bedenken. Erstens werden in den Ländern Drogentote unterschiedlich erkannt und registriert. Es gebe "Unterschiede in der Möglichkeit von Autopsien" und bei den Codierungsverfahren in den Ländern, schreibt die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht.
Die Länder hätten verschiedene Verfahren, um Fälle zu dokumentieren und würden unterschiedlich häufig toxikologische Untersuchungen nach dem Tod durchführen. Außerdem sei der Informationsaustausch zwischen den Behörden in manchen Ländern "unzureichend" oder fehle komplett. Das könne die Vollständigkeit der Informationen beeinträchtigen und die Vergleichbarkeit beeinflussen.
Schaut man sich die Europakarte des Europäischen Drogenberichts von 2020 (Grafik 8) an, gibt es zum Beispiel in den meisten osteuropäischen Ländern weniger als zehn registrierte Drogentote pro Million Einwohner im Jahr. Diese Zahlen hält Dirk Schäffer für nicht realistisch. Beispielsweise habe sich bei Fachkonferenzen - wie kürzlich der Harm Reduction Conference in Prag - gezeigt, dass die Experten aus osteuropäischen Ländern von ähnlichen Zahlen ausgingen wie in anderen EU-Ländern auch. Die Erhebungssysteme würden aber hinterherhinken, sagt Schäffer.
Laut Experten hohe Dunkelziffer bei Drogentoten
Selbst in Deutschland gibt es Unterschiede bei der Datenerhebung. Nicht in allen Bundesländern werden alle aufgefundenen Toten obduziert und toxikologische Gutachten gemacht.
Oft werde ein Drogeneinfluss dann als todesursächlich genannt, wenn sichtbare Indizien vorlägen - wie zum Beispiel eine Spritze im Arm oder Verpackungsmaterialien, die neben dem Toten liegen, sagt Schäffer. Wenn aber zum Beispiel der Kreislauf nach dem Konsum von Amphetaminen versage und man versterbe, würde das nicht unbedingt bemerkt. Im Bundeslagebericht zur Rauschgiftkriminalität heißt es, dass etwa bei Vergiftungen durch synthetische Opioide und Fentanyl aufgrund deren schwieriger Erkennbarkeit von einem großen Dunkelfeld auszugehen ist.
Auch Menschen, die an den Langzeitfolgen ihres Drogenkonsums sterben, werden nicht in allen Bundesländern erfasst. "Dieses Verfahren legt nahe, dass die Zahl derer, die an den Folgen von illegalen Substanzen sterben, deutlich höher ist als die registrierten Fälle", sagt Drogen-Experte Schäffer.
Nur Drogentote durch Überdosis berücksichtigt
Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht erfasst ebenfalls nur Menschen, bei denen der Tod kurz nach dem Konsum der Droge eintritt - die also an einer Überdosis sterben. Hier kann es zu Verzerrungen im europäischen Vergleich kommen: Manche Länder zählten nämlich auch solche Fälle, bei denen Menschen nicht direkt an einer Überdosis starben, heißt es von der Beobachtungsstelle.
Fazit
In Bayern gab es in den letzten Jahren mehr registrierte Drogentodesfälle als in den Niederlanden, sowohl in absoluten Zahlen als auch im Verhältnis zur Bevölkerung. Bayern hat laut aktuellen Zahlen im Deutschlandvergleich die zweitmeisten Todesfälle, nach Nordrhein-Westfalen - aber das sind auch die beiden Bundesländer mit den meisten Einwohnern. Im Verhältnis von Drogentoten pro Million Einwohner liegt der Freistaat im Mittelfeld, ebenso Deutschland im europäischen Vergleich.
Aus diesen Zahlen jedoch weitgehende Schlüsse zu ziehen ist schwierig. Die Länder haben teilweise unterschiedliche Zählweisen und veranlassen unterschiedlich häufig Obduktionen. Das kann die Vergleichbarkeit beeinträchtigen. Selbst zwischen den Bundesländern gibt es Unterschiede.
Inwiefern die Drogengesetze und deren Verfolgung in den Niederlanden liberaler sind als in Bayern und ob Drogengesetze einen belegbaren Einfluss auf die Drogentodeszahlen haben - wie im Netz anhand von Bayern und den Niederlanden argumentiert wird - lesen Sie hier im zweiten Teil der Recherche.
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