Der Todesflug von Marienbad. Ein Mann im Hintergrund hält eine Pistole in der Hand und zielt auf einen Piloten.
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Illustration: Der Todesflug von Marienbad

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Flugzeugentführung: Was geschah an Bord der Turbolet L-410?

Flugzeugentführung: Was geschah an Bord der Turbolet L-410?

Zehn junge Tschechoslowaken entführen am 8. Juni 1972 ein Flugzeug, um in den Westen zu fliehen. Sie landen in Weiden in der Opferpfalz. Der Pilot ist tot. Was ist geschehen? 50 Jahre nach den Ereignissen rekonstruiert Kontrovers die Geschehnisse.

Über dieses Thema berichtet: Kontrovers am .

Vor genau 50 Jahren setzt auf dem beschaulichen Flugplatz im oberpfälzischen Weiden ein Passagierflugzeug des Typs Turbolet L-410 auf. Unerwartet. Die Maschine war am 8. Juni 1972 um 16 Uhr in Marienbad in der damaligen Tschechoslowakei gestartet und sollte eigentlich nach Prag fliegen. Doch an Bord befanden sich zehn Frauen und Männer, die ein anderes Ziel verfolgten: Ihre Freiheit. Jenseits des Eisernen Vorhangs. Im Westen.

Jaromír Dvořák damals 19 Jahre alt, war einer der Entführer. Für das BR-Dokuformat Kontrovers – Die Story spricht er zum ersten Mal mit einem deutschen Fernsehteam darüber, wie sich die Entführer ihre Flucht vorgestellt hatten: "Wenn wir es mit den Pistolen an Bord geschafft haben, dann richtet einer von uns die Waffe auf den Piloten. Und dann ist alles klar. Wir fliegen einfach nach Deutschland, landen, beantragen politisches Asyl und sitzen unsere Strafen ab und gut ist es."

Pilot verblutet im Cockpit

Tatsächlich schmuggeln die Entführer an jenem Tag vor 50 Jahren zwei Waffen an Bord des Kleinflugzeugs, überwältigen vier Minuten nach dem Start die Flugbegleiter und zwingen den Piloten den Kurs zu ändern. Etwa 25 Minuten später landen sie auf dem erstbesten Flugplatz in West-Deutschland, in Weiden. Doch der Pilot ist tot. Was ist an Bord des Kleinflugzeuges geschehen?

Noch in der Nacht wird die Leiche des Piloten am Städtischen Krankenhaus in Weiden durch den Landgerichtsarzt obduziert. Das Ergebnis lautet: Es wurde ein Schuss aus kurzer Entfernung auf den Hals des Piloten abgefeuert. Bereits am nächsten Tag wird die Leiche nach Prag überführt. Die zehn Republikflüchtlinge, deren Ziel ein Leben in Freiheit war, sind plötzlich für den Tod eines Menschen verantwortlich. Sie kommen in Untersuchungshaft, werden später wegen schwerer Luftpiraterie angeklagt.

Kaltblütig sei der Pilot hingerichtet worden, heißt es. Als man Lubomír Adamica, dem Entführer, der die Waffe auf den Piloten richtete, die Anklage wegen Mordes überreicht, erhängt er sich in seiner Zelle. "Ihr wisst, wie es passiert ist", schreibt er in seinem Abschiedsbrief. Tatsächlich gibt es bis heute Zweifel, ob damals wirklich ein Mord geschah.

Video: Kontrovers - Die Story: Der Todesflug von Marienbad: Was geschah an Bord der Turbolet L-410?

Flugzeugentführung: Flucht mit geringem Risiko?

Vier Jahre zuvor, im August 1968, marschieren sowjetische Truppen in die Tschechoslowakei ein und beenden den "Prager Frühling" und seine Reformen. Dutzende Menschen sterben, Tausende müssen ins Gefängnis. Die Tschechoslowakei wird ein Überwachungsstaat hinter dem Eisernen Vorhang. Immer wieder versuchen Menschen aus der Tschechoslowakei zu flüchten.

Doch das ist gefährlich. Schätzungsweise 300 Menschen sterben bei Fluchtversuchen am Eisernen Vorhang. Sie werden erschossen, von Wachhunden zerrissen oder scheitern an den Grenzabsperrungen. 1970 hatte es eine erste Flugzeugentführung von Tschechoslowaken gegeben, acht Personen gelang die Flucht über den Luftweg nach Nürnberg.

Prag obduziert die Leiche noch einmal

Doch was ist zwei Jahre später an Bord der Turbolet passiert? Einer, den die Geschichte der Flugzeugentführung seiner Landsleute nicht mehr loslässt, ist Petr Vrána: "Diese zehn Leute wollten zusammenbleiben und dann hatten sie diese verrückte Idee. Sie sagten sich: Zwölf Kilometer Luftlinie bis nach Deutschland."

Vrána ist selbst aus der Tschechoslowakei in die Bundesrepublik geflohen. Im Archiv der Sicherheitsdienste in Prag ist er auf geheime Unterlagen des Innenministeriums gestoßen. Mehr als 2.000 Seiten. Neben der Staatsanwaltschaft im oberpfälzischen Weiden hat auch die tschechoslowakische Staatssicherheit in dem Fall ermittelt. Ein Bericht aus dem Militärhospital in Prag existiert noch. Dort wurde die Leiche des Piloten von tschechoslowakischen Rechtsmedizinern ein zweites Mal obduziert.

Die Rechtsmediziner in Prag kommen zu einem anderen Ergebnis als der Landgerichtsarzt von Weiden. Das Projektil sei nicht oben am Hals in den Körper des Piloten eingedrungen, sondern weiter unten auf Höhe des Brustkorbs. "Für die Einschussstelle auf den rechten Teil des Brustkorbs spricht ein Splitter des zweiten Rippenbogens. Dieser Teil hat sich in Richtung Körpermitte gelöst", erklärt Vrána. Die Bruchrichtung der Rippe zeigt den Weg des Projektils an, resümieren die Rechtsmediziner. Und Blutergüsse am Arm des Piloten deuten auf ein Handgemenge hin.

Ein Handgemenge. Ein Schuss.

Jaromír Dvořák bestätigt den Tumult an Bord. Einer der Passagiere habe sich nach vorne auf den Entführer mit der Waffe gestürzt: "Und dann wurde der Lubomír wütend und hat die Waffe gezogen. Das war eine 50 Jahre alte Waffe", erinnert sich Dvořák. "Und dann hat der Pilot die Waffe gepackt, vermutet er. So muss es gewesen sein. Er hat die Waffe nach vorne gezogen und ihm aus der Hand winden wollen", rekonstruiert Petr Vrána aus seiner Sicht den weiteren Verlauf.

Dann sei schließlich die Waffe losgegangen. Diese Aussagen würden sich mit den Obduktionsergebnissen der tschechoslowakischen Rechtsmediziner decken und den Schussverlauf unten vom Brustkorb nach oben zum Hals erklären. Ein Handgemenge. Ein Schuss.

Weiden: Keine Hinweise auf zweiten Obduktionsbericht

Hat die Staatsanwaltschaft Weiden damals gewusst, dass es eine zweite Obduktion in Prag gab? Oberstaatsanwalt Christian Härtl erklärt gegenüber Kontrovers, dass sich in den Akten kein Hinweis auf den Obduktionsbericht aus Prag befindet. "Ich habe allerdings keine Zweifel an der Richtigkeit der Obduktion, die durch die deutschen Behörden, durch den damaligen Landgerichtsarzt durchgeführt wurde."

In den Ermittlungsakten befinde sich zudem ein Gutachten vom LKA. Deutsche Polizeibeamte hätten damals auch den Hemdkragen des Piloten untersucht. "Dort sind Bleispuren gefunden worden, was eigentlich darauf hindeutet, dass in der Nähe der Schuss abgegeben wurde. Und es wurde insbesondere am Hemdkragen des Piloten eine Beschädigung vorgefunden, die nach der Untersuchung des LKA auch Schmauchspuren aufweist." Die Staatsanwaltschaft Weiden bleibt dabei: Die Ermittlungsergebnisse auf deutscher Seite deuten darauf hin, dass der Schuss aus kurzer Entfernung auf den Hals des Piloten abgefeuert worden ist. Akteneinsicht erhalten die Journalisten von Kontrovers nicht.

"Keine vorsätzlich geplante Tötung"

2021 haben tschechische Rechtsmediziner einen wissenschaftlichen Aufsatz publiziert. Darin geht es um die Flugzeugentführung. Sie haben die verfügbaren Unterlagen von damals erneut überprüft und dabei alle möglichen Situationen noch einmal durchgespielt, um zu rekonstruieren, wie es zu dem Schusskanal kommen konnte. Ihr Ergebnis: "Es kann keine vorsätzlich geplante Tötung gewesen sein."

Für die zehn jungen Frauen und Männer war der Tod des Piloten eine schwere Belastung. Sie haben nach dem Verbüßen ihrer Haftstrafen nicht in das Leben hineingefunden, dass sie sich erhofft hatten. Schließlich war ihre Freiheit immer mit der Bürde verbunden, dass sie in eine Mordtat involviert waren.

"Mord oder Totschlag. Na, das ist schon ein großer Unterschied", konstatiert Jaromír Dvořák 50 Jahre nach der Flugzeugentführung. Die meisten Entführer leben inzwischen nicht mehr. Einige hatten lange Jahre Schuldgefühle und litten unter dem tragischen Ausgang der Entführung. Der Todesflug von Marienbad. Eine Entführung so tragisch, dass man sie nicht vergessen kann.

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