In einer Buchhandlung in Unterfranken fragt Kevin Lick sofort nach Dostojewski. Der 19-Jährige sucht die Buchrücken ab und zieht "Die Brüder Karamasow" aus dem Regal. "Ich habe das auf Russisch gelesen. In diesem Buch beschreibt Dostojewski den Menschen als ein Wesen, das sich an viele Umgebungen anpassen kann. An diese Worte habe ich mich im Gefängnis wiedererinnert."
- Zum Artikel: Umfassender Gefangenenaustausch mit Russland
Als Kind nach Russland gezogen – mit Sympathie für Nawalny
Aufgewachsen ist Lick mit seiner alleinerziehenden Mutter in Montabaur in Rheinland-Pfalz. Als er zwölf Jahre alt ist, zieht er mit ihr in ihre Heimat, den Nordkaukasus in Russland. Obwohl er erst dort Russisch lernt, ist er ein guter Schüler. Seine Mutter hat die Urkunden der Schulwettbewerbe aufgehoben. Er erzählt, dass er als Siebtklässler in seiner Schule ein Bild von Präsident Wladimir Putin abgehängt habe – und dafür eines des Oppositionellen Alexei Nawalny aufgehängt habe. Nawalny ist inzwischen in einem sibirischen Straflager gestorben. Lick glaubt, dass ihn jemand wegen des Bildes angeschwärzt habe und er seitdem beschattet wurde.
Auf dem Weg zum Flughafen verhaftet
Im Frühjahr 2023 wollen seine Mutter und er zurück nach Deutschland ziehen. Er ist damals 17 Jahre alt. Sie sind schon auf dem Weg zum Flughafen. "Und plötzlich fuhr an uns ein grauer Van vorbei und hielt an", sagt Lick. "Aus ihm stürmten neun Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB und umzingelten mich und meine Mutter. Einer packte mich an meiner Schulter und man hat mich in den Bus gesetzt."
Lick wird verhaftet, seine Mutter bleibt frei. Er wird beschuldigt, Fotos einer Militäreinheit an deutsche Behörden weitergeben zu wollen.
Lagerhaft wegen "Landesverrat"
Lick kann sich an jedes wichtige Datum der vergangenen Monate erinnern. An welchem Tag er verhaftet wurde und ihm seine Ausweisdokumente abgenommen wurden. An welchem Tag er in U-Haft kam. An welchem Tag er wegen Landesverrats verurteilt wurde – als jüngste Person jemals in Russland. Nach Stationen in verschiedenen Gefängnissen kommt Lick in ein Arbeitslager im Norden von Russland.
Lesen hat ihm im Gefängnis geholfen
Lick muss Zwangsarbeit in einer Näherei verrichten. Er verbringt manche Tage in Isolationshaft. In Gefängnisräumen mit Gittern in den Fenstern, aber ohne Glas – und das bei sehr niedrigen Temperaturen im März. Im Gefängnis habe er viel gelesen. "Aufhören mit dem Lesen, bedeutet aufhören mit dem Denken, hat Dostojewski mal geschrieben. Und das sehe ich auch so", sagt Lick.
Hoffen auf Hilfe aus Deutschland
Außerdem glaubt er an Hilfe aus Deutschland, gibt die Hoffnung nicht auf. "Im Straflager selbst hatte ich sehr oft ein Lächeln im Gesicht. Viele Menschen haben mich gefragt, was es denn zu lächeln gibt. Ich habe immer gesagt: Warum darf ich nicht lächeln? Soll ich denn weinen? Wenn man selbst lächelt, dann hat man eine bessere Stimmung."
Anfang August – 17 Monate nach seiner Festnahme – ist er der Jüngste des Gefangenenaustauschs. 26 Gefangene tauschen Russland und mehrere westliche Staaten aus. Es ist der größte Gefangenenaustausch seit Ende des Kalten Kriegs. Über Ankara fliegt Lick mit 15 anderen Gefangenen nach Deutschland. Den Start des Flugzeugs habe er nicht mitbekommen – denn es gab Cola zu trinken.
Von Bundeskanzler Scholz am Flughafen empfangen
Am Flughafen Köln/Bonn begrüßt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ihn und die anderen Ausgetauschten. "Ich habe ihm natürlich gesagt, dass ich ihm und der Bundesregierung sehr dankbar bin – dass die anderen Menschen und ich gerettet worden sind", sagt Lick. "Er hat darauf geantwortet, dass er über mich gelesen habe und sich freue, mich zu sehen."
Als er aus dem Flugzeug steigt, trägt Lick noch Häftlingskleidung. Bald will er sie einem Museum übergeben. Bei seiner Ankunft in Deutschland waren seine Haare kurz rasiert. Mittlerweile sind sie schon wieder ein wenig nachgewachsen.
"Ein Gefühl wie zu schnelles Auftauchen"
Vom Flughafen aus geht es nach Unterfranken. Hier wohnt Kevin nun mit seiner Mutter bei ihrem neuen Mann – und wagt einen Neuanfang. Seinen genauen Wohnort will er nicht nennen.
Fahrrad fahren, Musik mit Kopfhörern hören, bei seiner Mutter sein: All das hat der 19-Jährige vermisst. Die Freiheit – sie fühlt sich noch ungewohnt an. Die Realität sehe er durch einen Nebelschleier, sagt er. Es sei ein Gefühl wie das eines Tauchers, der zu schnell an die Oberfläche kommt. Lick spricht sehr bestimmt. Er ärgert sich, wenn er nicht gleich das richtige Wort findet. Manchmal schließt er beim Sprechen die Augen.
In Unterfranken zur Ruhe kommen
Seine ersten Wochen in Freiheit sind vollgepackt. Einladungen aus Köln, Bonn, Berlin, sogar aus Finnland. Er soll auf Podien sprechen, Interviews geben. Das Meiste lehnt er ab. Er will Ruhe finden, sagt er. Und in Unterfranken ankommen.
Nächste Schritte: Abitur und Studium in Deutschland
Aktuell bemüht er sich um einen Schulplatz. Er möchte Abitur machen und studieren. "Ich bin natürlich jetzt sehr motiviert, wieder zurück in die Schule zu gehen. Ich hatte nicht die Möglichkeit, die Schule zu beenden – ich wurde ja verhaftet, als ich in der zehnten Klasse war", sagt Lick.
Lick will Briefe an andere Gefangene in Russland schreiben
Im Gefängnis hat er Briefe bekommen. Zum Beispiel von einem 85-Jährigen aus Montabaur. Er hatte von Licks Festnahme gelesen und ihm geschrieben. Die Post aus Deutschland habe Lick Mut gemacht. Darum möchte er nun anderen politischen Gefangenen in Russland Briefe schreiben.
Mit deutschem Pass in die Zukunft
Aber zuerst hat Kevin Lick noch einen Termin im Rathaus einer unterfränkischen Stadt. Als er herauskommt, hat er etwas Besonderes dabei. Etwas, das ihm bei seiner Festnahme weggenommen wurde: den deutschen Ausweis. "Natürlich bin jetzt voller Freude, den in der Hand zu halten. Ich sehe es als einen Neubeginn, und ich habe vieles vor."
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