Nachdem die beiden NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im November 2011 eine Sparkasse in Thüringen überfallen hatten, wurde ihr Fluchtfahrzeug, ein Wohnwagen, von der Polizei gestellt. Doch noch vor einem möglichen Zugriff brachten sich die beiden um. Beim Abgleich der Fingerabdrücke und nach dem Versenden der sogenannten Bekenner-DVDs durch Beate Zschäpe wurde das Kerntrio der neonazistischen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) enttarnt.
Nach dem NSU: Bayerische Neonazis planen Anschläge
Die Neonazis führten Gesellschaft und Sicherheitsbehörden vor, dass sie über Jahre hinweg, unterstützt durch ein Neonazi-Netzwerk bundesweit unbemerkt Morde und Anschläge begehen konnten. Es folgte eine Debatte über die Arbeit der Sicherheitsbehörden, über gesellschaftlichen und institutionellen Rassismus und über die Verharmlosung von Rechtsextremismus. Die neonazistische, terroraffine Szene in Bayern jedoch ließ sich davon nicht beeindrucken und agiert extremer denn je.
Morddrohung und Patrone per Post
Ende Januar 2020 erschüttert ein Brief eine Familie in Mittelfranken. Frank Pitterlein, CSU-Politiker und Bürgermeister von Schnaittach, bekommt von seiner Frau beim Mittagessen einen seltsamen Brief überreicht. Die Adresse mit Schablonen-Buchstaben geschrieben. Im Kuvert befindet sich eine scharfe Patrone und ein Beileidsschreiben mit einer klaren Morddrohung.
"Judenfreund! Wir kriegen euch alle!"
Es ist nicht die einzige Bedrohung in diesem Zeitraum. Auch eine Moscheegemeinde in Röthenbach und der Landrat des Landkreises Nürnberger Land, Armin Kroder (FW) werden bedroht. Kroder erhält ein Briefkuvert mit dem Text "Armin Kroder, Juden- und Ausländerfreund, erschossen auf der Terrasse. Wir kriegen euch alle!". Es ist eine Anspielung auf den Mord am CDU-Politiker Walter Lübcke 2019 in Hessen. Ein andermal folgt die Drohung telefonisch auf dem privaten Anschluss der Familie.
Im Visier: Lokalpolitiker, Polizisten, Muslime
Die Polizei ermittelt Susanne G. als Drohbriefschreiberin, eine 56-Jährige aus dem Landkreis Nürnberger Land: fest eingebunden in die Neonaziszene, aktiv bei der Partei "Der dritte Weg". Die Heilpraktikerin wird von Zielfahndern festgenommen, nachdem sie zuvor abgetaucht war. Wie sich später herausstellt, observierte G. auch Polizisten und recherchierte Gebetszeiten von Moscheen. Bei ihrer Festnahme finden Beamte in ihrem Auto neben einer schusssicheren Weste Materialien zum Bombenbau wie Chemikalien und Zündschnüre. Die Ermittler sind davon überzeugt, dass die Mutter von zwei Kindern kurz davorstand, einen schwerwiegenden Anschlag zu begehen. Im Juli 2021 wird sie zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Gegen das Urteil hat sie Revision eingelegt.
Neonazis dringen in andere Milieus vor
Die BR-Recherchen machen noch einen weiteren Neonazi aus Mittelfranken ausfindig. Günther F. (Name geändert) ist seit Jahrzehnten in der Szene vernetzt, trat in führender Funktion in verschiedenen Kameradschaften und Parteien auf. Nach dem Auffliegen der NSU-Terroristen glorifizierte er öffentlich die NSU-Morde und wurde deswegen verurteilt.
Anhand der Aktivitäten von Günther F. zeigt sich beispielhaft, wie sich die rechtsextreme Szene in Bayern von einer eher homogenen Szene – bestehend aus Parteien und Kameradschaften – hin zu einer heterogenen Szene wandelte, die auch in andere politische Milieus vordringt. So versuchte F. beispielsweise 2016 zur Hoch-Zeit der Fluchtbewegung in Deutschland in einem multikulturell geprägten Nürnberger Stadtteil, die russlanddeutsche Community gegen die Aufnahme von Geflüchteten zu mobilisieren.
- Zum Artikel "Zehn Jahre nach Ende des NSU-Terrors: Immer noch offene Fragen"
Anheizer im Umfeld der Querdenken-Szene
In den vergangenen Monaten trat F. dann in Chatgruppen der Querdenken-Szene als Einheizer auf, schrieb beispielsweise, dass eine Demo der Querdenker den "Volksverrätern das blanke Entsetzten ins Gesicht" schreiben sollte oder spornte Anhänger der Szene an: "Volksaufstand-Revolutionen brauchen keine Genehmigung". In den Chatgruppen erreichte F. damit tausende.
Ein Team von BR-Reportern traf F. vor seinem Wohnhaus in Franken. Er hat eine geheime Adresse und führt offenbar ein unauffälliges, bürgerliches Leben. Auf Konfrontation mit seinen Aktivitäten behauptete F., er sei aus der Szene ausgestiegen und erklärte sich für ein Interview bereit. Doch dazu kam es nicht. Über seinen Anwalt erreichte den BR ein Schreiben. Die Journalisten sollten F. demnach nicht mehr kontaktieren und aufgenommenes Filmmaterial vernichten.
Terroraffine Aktivisten organisieren sich im Internet
Der Werdegang von F. ist kein Einzelfall. Insgesamt verlagerte ein Teil der Neonazis in Bayern die Aktivitäten von der Straße ins Internet. Die rechtsextreme Szene wandelt sich massiv, sie wächst und ist immer schwerer zu greifen. Dies zeigt der Fall Fabian D. aus der Oberpfalz. Der 23-Jährige ist nicht klassisch neonazistisch sozialisiert worden, war nicht in Kameradschaften oder Parteien eingebunden. Der Oberpfälzer ist Mitglied der "Feuerkrieg Division". Unter diesem Namen vernetzen sich junge Neonazis, vorwiegend aus Europa und den Vereinigten Staaten. Ihr Austausch läuft über teils verschlüsselte Messenger-Dienste wie Wire oder Telegram. Sie halten sich nicht mit NS-Nostalgie auf, sie wollen neuen Terror verbreiten.
Tötungsfantasien aus der Oberpfalz
Völlig unbemerkt, versteckt in seinem beschaulichen Heimatort, nahm Fabian D. diese Gesinnung auf und teilte sie. Im Chat der Feuerkrieg-Division tauschte er sich über Folterfantasien aus. Ein Mann auf einem Foto wurde zum Beispiel als "unmännlich" bezeichnet. D. fragte auf Englisch: "Soll ich ein paar Seile vorbereiten"? Ein anderer Chat-Teilnehmer forderte, den Mann anzuzünden und dann leiden zu lassen. D. bekräftigte dies mit einem zynischen Lach-Kommentar. Doch es blieb nicht bei abstrakten Tötungsphantasien. D. besorgte sich einen Deko-Nachbau eines Sturmgewehrs und wollte dieses zu einer funktionsfähigen Waffe umbauen.
"Wir schießen der jüdischen Schlampe ins Gesicht!"
Die Waffen benötigte er für einen Anschlag, wahrscheinlich auf eine Moschee oder Synagoge, vermuten Ermittler. Doch Fabian D. konnte rechtzeitig gestoppt werden. Nach einem Hinweis von ausländischen Geheimdiensten nahmen ihn Spezialkräfte der Polizei fest. Im Dezember des vergangenen Jahres wurde D. wegen der Planung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Haftstrafe von zwei Jahren verurteilt. Wie tief sein Hass saß, zeigte der 23-Jährige aus der Oberpfalz im Chat mit Gesinnungskameraden, als er schrieb: "Wir sind diejenigen, die die Pistole rausholen und der jüdischen Schlampe ins Gesicht schießen".
Neonazis trainieren mit Waffen in Tschechien
Mit dem Schießen kennt sich Fabian D. aus. So fuhr er vor dem Prozess ins benachbarte Tschechien und übte dort mit einem Sturmgewehr und einer Uzi-Maschinenpistole. Die tschechische Grenzregion ist ein Paradies für deutsche Neonazis, die keinen Waffenschein besitzen und dort unbeobachtet mit scharfen Waffen trainieren wollen. Auch Susanne G. trainierte kurz vor ihrem Untertauchen mit dem Bundesvorsitzenden der Neonazi-Partei "Der dritte Weg" in Tschechien am Schießstand. Der Nürnberger Neonazi Günther F. fuhr ebenfalls in der Vergangenheit nach Tschechien. Bilder und Videos, die dem BR vorliegen, zeigen den Mitte 50-Jährigen beim Trainieren mit Waffen am Schießstand, darunter auch mit einer Maschinenpistole.
Rechtsextremismus erreicht "breite Teile der Bevölkerung"
Wissenschaftler wie Andreas Zick von der Universität Bielefeld beobachten einen Trend in Deutschland, der gefährlich ist: " Wir leben jetzt in einer Zeit 2021, wo wir sehen, dass die Idee, die aus dem Rechtsextremismus kommt: Widerstand gegen das System und die da oben, nun auch breite Teile der Bevölkerung mitgenommen hat", sagte er dem BR. Rechtsextreme Ideologen und Täter rücken demnach immer stärker vom rechten Rand in die Mitte der Gesellschaft. Getragen von einer gesellschaftlichen Stimmung in der Intoleranz, Hetze und Gewalt gegen andere immer offener gezeigt werden.
CSU-Politiker will sich nicht einschüchtern lassen
Ihr Ziel ist klar: die Vernichtung der jetzigen demokratischen Gesellschaftsordnung, Hass und Unruhe verbreiten, die Gesellschaft spalten. Doch eine offene und liberale Gesellschaft darf sich davon nicht einschüchtern lassen, sagen Menschen wie CSU-Politiker Frank Pitterlein, der ausgespäht und mit dem Tode bedroht wurde. Er glaubt, dass sich die Zivilgesellschaft noch stärker gegen extremistische und demokratiegefährdende Strömungen stellen muss: "Die breite Mitte ist ein wenig zu leise für meinen Geschmack." In einer wehrhaften Demokratie seien alle gefordert.
45-Minuten Dokumentation bei DokThema im BR-Fernsehen
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