Am 18. Oktober 2023 erreicht eine Mail das bayerische Justizministerium. Die damalige Ärztin der JVA Gablingen berichtet von menschenunwürdigen Zuständen in dem Gefängnis. Von Häftlingen, die nackt und ohne Grund in den sogenannten "besonders gesicherten Hafträumen" (bgH) eingesperrt würden. Doch nun zeigt sich: Das Schreiben der Ärztin war nicht der einzige Hinweis, und auch nicht der Erste: Etliche Häftlinge hatten sich ans Justizministerium gewandt. Teils mit schwerwiegenden Vorwürfen.
Eltern eines Häftlings schreiben dem Ministerium
Im Mai 2023, also rund fünf Monate vor der Mail der Ärztin, geht im Justizministerium eine erste Beschwerde ein. Abgeschickt haben sie die Eltern eines Häftlings der JVA Gablingen. Sie beklagen, dass ihr Sohn nackt in einer der Spezialzellen eingesperrt wurde. Dort habe er "keine Nahrung" erhalten, so das Ministerium auf Nachfragen des BR. Auch eine Matratze und eine Decke hatte der Gefangene offenbar nicht. Der Raum sei "ohne jegliche Einrichtung" gewesen. Zwei Wochen saß der Mann in der bgH-Zelle ein, bestätigt das Ministerium dem BR.
Eine weitere Beschwerde wurde von gleich 31 Häftlingen unterzeichnet. Sie erreicht das Ministerium nur fünf Tage nach der Mail der Ärztin. Die Vorwürfe: Briefe, in denen etwas über die JVA steht, würden nicht versendet. Wer sich beschwert, werde in den "Bunker", die "Absonderung" oder den Arrest geschickt, schreiben die Gefangenen ans Ministerium. Und wie bei der Gefängnisärztin richten sich die Vorwürfe vor allem gegen eine Person: die damalige stellvertretende Leiterin der JVA.
"Ohne Essen und Wasser" in Spezialzelle eingesperrt?
Dann, zwei Wochen später, die nächsten Hinweise: Am 9. und 14. November sowie am 29. Dezember 2023 schreibt ein Häftling dem Ministerium, dass auch er in den bgH-Zellen eingesperrt war. Für eine Woche, ebenfalls völlig nackt und ohne Matratze. Nach Informationen des BR war der Mann ein sehr schwieriger Gefangener. In seinem ersten Brief beklagt er, in der Zelle "kein eigenes Essen" bekommen zu haben. Ein Vorwurf, den er im Dezember erneuert. Er sei "ohne Essen und Wasser" eingesperrt worden.
Keine der Beschwerden leitet das Ministerium eigens an die Staatsanwaltschaft weiter. Dabei stützen sie die Vorwürfe der Medizinerin oder gehen sogar darüber hinaus. Im Fall der von 31 Häftlingen unterzeichneten Beschwerde seien der zuständigen Strafvollzugabteilung "keine Anhaltspunkte für strafrechtlich relevantes Verhalten" ersichtlich gewesen, so das Ministerium. Bei allen Beschwerden vertrauten die Ministerialbeamten letztlich der JVA-Leitung in Gablingen, die auf Nachfragen stets erklärt: Es sei nichts dran an den Vorwürfen - vor allem, was die Versorgung mit Essen und Trinken anbelange.
Häftling äußert Prügel-Vorwürfe
Der Staatsanwaltschaft Augsburg hätten die Schreiben der Häftlinge womöglich helfen können. Denn die Vorwürfe der Ärztin seien "allgemein gehalten" gewesen, sagt die Staatsanwaltschaft. Offenbar fehlten den Ermittlern Namen und konkret überprüfbare Fälle. In den Beschwerden, die dem Ministerium vorlagen, wären diese zu finden gewesen.
Wieder nur zwei Monate später, im Februar 2024, kommen dann auch Gewaltvorwürfe hinzu. Ein ehemaliger Häftling schreibt dem Ministerium, dass er von Sicherheitskräften geschlagen worden sei, bevor er in die bgH-Zelle kam. Insgesamt vier Beschwerden schickt er binnen eines Monats ab. Erst die dritte wird an die Generalstaatsanwaltschaft weitergeleitet, die das Schreiben dann an die Staatsanwaltschaft Augsburg schickt.
Opposition spricht von "absolutem Versagen"
Der Grünen-Politiker Toni Schuberl spricht von einem "absoluten Versagen" der Behörden. "Nicht einmal die Beschwerden, die nach dem Brief der Ärztin eingegangen sind, wurden ernst genommen." Das Verhalten des Ministeriums beruhe "auf der selbstgerechten und verharmlosenden Überzeugung, dass Beschwerden eher Ausdruck von Querulanz und Unbotmäßigkeit inhaftierter Rechtsbrecher und deren Angehöriger sind, als ein grundsätzlich ernst zu nehmender Vortrag von Hilfe suchenden Menschen", kritisiert Horst Arnold (SPD), früher selbst Staatsanwalt und Richter.
Inzwischen liegen die Beschwerden der Häftlinge auch der Staatsanwaltschaft Augsburg vor, die unter Federführung des neuen Behördenleiters schließlich die JVA mehrfach durchsuchte und Ermittlungen gegen 17 Bedienstete einleitete, darunter die frühere Leitung.
Lob für Reformen des Ministers
Bei der Kontrolle von Gablingen hätte rückblickend mehr passieren müssen, betont Justizminister Georg Eisenreich (CSU) immer wieder. Er scheint ernst zu machen mit seiner Ankündigung, die Vorwürfe vollumfänglich aufzuklären. Der Justizausschuss wurde auf 79 Seiten ausführlich über den Stand der Aufklärung und die Beschwerden der Häftlinge informiert. Alle Anfragen des BR wurden vom Ministerium beantwortet. Und Oppositionspolitiker Arnold lobt die Reformen, die Eisenreich als Reaktion auf Gablingen eingeleitet hat. Beschwerden werden zum Beispiel nun zentral gesammelt und bewertet. Zudem wurden alle Häftlings-Vorwürfe gegen Gablinger Aufseher nochmals überprüft, sogar an früheren Dienstorten. Hinzu kommen künftig unangekündigte Kontrollbesuche in den Haftanstalten, so Eisenreich.
Ob die Beschwerden der Häftlinge zutreffen, wird derzeit ermittelt. Wenn die bgH-Zellen nicht missbräuchlich genutzt werden, sind sie im Gefängnisalltag unverzichtbar. Zudem werden manche Häftlinge auch aus Vorsicht ohne Papierunterhose eingesperrt, damit sie diese nicht in suizidaler Absicht verschlucken.
Was die frühere stellvertretende Leiterin betrifft, so hätte sie jede Beschwerde ernst genommen, schreibt einer ihrer Anwälte. Wenn sie von etwaigen Mängeln erfahren hätte, habe sie diese behoben, und "auch die Modalitäten der Essensausgabe in besonders gesicherten Hafträumen nachjustiert". Für alle Beschuldigten der JVA gilt die Unschuldsvermutung.
Zum Nachhören: Gefangenen-Beschwerden nicht weitergleitet
Der besonders gesicherte Haftraum (bgH) steht im Zusammenhang zu den Misshandlungsvorwürfen im Gablinger Gefängnis.
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