18.30 Uhr in der Münchner Fußgängerzone. Dass Regine Kiefer zu dieser Zeit hier unterwegs ist, ist eine Ausnahme. Von links und rechts strömen die Menschen entgegen. Die einen sind schwer bepackt mit Geschenken und Tüten. Andere steuern schnurstracks den nächsten Glühweinstand an. Jetzt, wenige Tage vor Weihnachten, geht es hier noch viel hektischer zu als sonst.
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"Im ersten Moment finde ich es ganz romantisch mit den Lichtern, aber wenn ich dann ins Getümmel eintauche, dann wird mir alles zu viel", sagt die Münchnerin, während sie versucht, einen Weg durch die Menschenmassen zu finden. Bei dem Elektro-Laden am Stachus ist gerade die Alarmanlage angegangen und das Bekleidungsgeschäft schräg gegenüber hat sogar außen Lautsprecher angebracht. So hört man die Weihnachtsmusik schon, bevor man in den Laden tritt.
Reizüberflutung: Hochsensible Menschen und Autisten besonders betroffen
Für Regine Kiefer ist das alles viel zu viel: Der Lärm, die Lichter, die Hintergrundmusik, die Hektik und die vielen Menschen aus allen Richtungen. Die Juristin erledigt ihre Weihnachtseinkäufe deshalb meist online oder geht, wenn es unbedingt sein muss, in den Morgenstunden in die Fußgängerzone. Gleich nachdem die Geschäfte öffnen.
Besonders schwer tut sich jedoch ihre Tochter, die heute nicht dabei ist. Sie ist von einer Form des Autismus betroffen und schafft es nur schwer, die Überfülle an Reizen zu verarbeiten. Ein gemeinsamer Besuch der vorweihnachtlichen Innenstadt ist da fast unmöglich.
Belastung vor allem auch für Mitarbeitende im Einzelhandel
Doch nicht nur manche Kunden leiden unter der Hektik und Lärmbelastung, sondern vor allem auch die Mitarbeitenden in den Kaufhäusern. Denn sie können nicht einfach weggehen, wenn es zu viel wird.
Florian Schelle ist Bereichsleiter "Lärm" am Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Vor ein paar Jahren hat er eine Broschüre über Lärmbelastung im Einzelhandel herausgegeben. Das Ergebnis der Untersuchung: Wie viele Angestellte konkret unter diesen Belastungen leiden, lässt sich nicht so einfach feststellen.
"Ein einfaches Beispiel wäre Musik im Geschäft. Da läuft jetzt den ganzen Tag in der Vorweihnachtszeit 'Last Christmas' von Wham! und vielleicht möchten die Beschäftigten das überhaupt nicht hören. Sie können es aber nicht beeinflussen und müssen das zusätzlich zu den anderen Reizen den ganzen Tag noch über sich ergehen lassen", so der Lärmexperte. "Wenn man dann mal fragt, kommt man darauf, dass das vielleicht 80 Prozent der Beschäftigten ganz ganz schlimm finden. Jetzt geht man in eine andere Filiale und dort kommt man zu einem ganz anderen Ergebnis. Weil die Beschäftigten sagen: 'Ja es stimmt, hier läuft Musik. Finden wir aber total super, das motiviert uns bei der Arbeit und das gefällt uns'."
Schelle rät deshalb betroffenen Mitarbeitenden, das Gespräch zu suchen. Wenn keine Lösung gefunden werden kann, dann helfe es vielleicht, die Einzelhandels-Gewerkschaft hinzuzuziehen.
Verdi Bayern: "Miteinander reden hilft meistens"
Dass Beschäftigte im Einzelhandel wegen der Lärm- und Stressbelastung die Gewerkschaft um Rat fragen, komme gar nicht mal so selten vor, so Hans Sterr von Verdi Bayern. Lösen lasse sich das Problem aber nur, wenn man zusammen mit dem Betriebsrat und der Geschäftsleitung spreche und Vereinbarungen treffe, wie man dem Ganzen zumindest ein bisschen oder zeitweise entgehen könne. "Wir hören immer wieder mal von Beschäftigten, dass ihnen das Gedudel und der Glitzer auf die Nerven geht," so Sterr.
Der Tipp der Gewerkschaft für betroffene Beschäftigte im Einzelhandel lautet deshalb: "In sich Hineinfressen hilft nichts, aber miteinander reden hilft meistens".
Mögliche Lösung: "Silent Shopping"
Es gibt aber auch noch eine andere Möglichkeit, den Stress von vornherein zu reduzieren. Die Initiative heißt "Silent Shopping" und kommt ursprünglich aus Neuseeland. Lärm-Experte Schelle erklärt, wie das funktioniert: "Das Grundprinzip ist eben, dass es leise im Geschäft ist. Selbst im Einzelhandel wäre es möglich, die Geräuschkulisse deutlich zu reduzieren - durch zum Beispiel das Ausbleiben von Ein- und Ausräumen von Regalen, das Ausbleiben von lauten Kassen-Piepstönen, man lässt mal die Durchsagen weg, man lässt mal die Musik im Laden weg."
Zudem müssten aber auch die Kunden darauf achten, dass es im Laden ein bisschen leiser zugeht. Schelle vergleicht "Silent Shopping" mit einer Bibliothek, denn da sei es schließlich auch möglich, dass viele Menschen in einem Raum leise sind.
Viele Geschäfte achten ohnehin auf ruhige Geräuschkulisse
Beim "Silent Shopping" geht es also nicht darum, "Last Christmas" oder die Weihnachtsbeleuchtung zu verbieten. Ein Laden soll nur für ein paar Stunden in der Woche etwas stiller und ruhiger gehalten werden. Das kostet zwar etwas Planung und Organisation, ist aber grundsätzlich machbar.
In Bayern gibt es das Konzept zwar noch nicht, viele Kaufhäuser achten aber auch so darauf, die Geräuschkulisse möglichst niedrig zu halten. Im einem Münchner Buchladen ist es zum Beispiel ziemlich leise, obwohl viele Kunden drin sind. Und auch in einem Spielzeuggeschäft läuft keine Hintergrundmusik.
In der hektischen Vorweihnachtszeit würden sich viele Menschen ruhigere Orte wünschen. Mitarbeitende, die sensibler auf die vielen Reize reagieren. Aber auch Kundinnen wie Regine Kiefer. Dann könnte die Juristin vielleicht auch einmal ihre Tochter in die vorweihnachtliche Fußgängerzone mitnehmen.
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