Werner Wesslau sperrt noch schnell sein Fahrrad ab, dann geht’s rein in die Parteizentrale der Münchner Grünen. Seine neue Wirkungsstätte - Wesslau ist seit Januar Mitglied. Der Grund für seine Entscheidung: Er will etwas verändern, sich konkret für die Demokratie einsetzen. "Es war eine Zeit, so in den 90er-Jahren, wo man wirklich das Gefühl hatte, die Welt ist absolut in Ordnung. Jetzt, in den letzten knapp zehn Jahren, kommt das alles ein bisschen ins Wackeln. Und es ist mir klargeworden, das ist alles nicht so selbstverständlich", sagt der 54-jährige Feuerwehrmann.
Wesslau ist kurz vor dem Beginn der großen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus eingetreten. Kurz bevor das Medienunternehmen Correctiv am 10. Januar 2024 seine Recherche über ein Treffen von Rechtsextremen in Potsdam veröffentlichte, die dort die Vertreibung von Menschen mit Migrationsgeschichte aus Deutschland besprachen. Auch einzelne Mitglieder der AfD, der CDU und der Werteunion nahmen an dem Treffen teil. Werner Wesslau sagt, wäre er nicht schon kurz zuvor Mitglied geworden, wäre das mit Sicherheit der finale Auslöser gewesen.
Der eigene Urgroßvater als Vorbild
Das Gleiche gilt auch für Sarah Ott. Die junge Doktorandin aus Augsburg ist ebenfalls im Januar einer Partei beigetreten. Sie hat sich für die CSU entschieden: "Es war schon länger ein Plan von mir, eigentlich seit letztem Sommer schon. Und dann im Januar habe ich gedacht, okay, jetzt mache ich es und habe mich recht kurzfristig einfach angemeldet."
Zum Eintritt in eine demokratische Partei inspiriert hat sie ihr Urgroßvater Thomas Breit. Auf ihrem Handy hat sie ein Schwarz-Weiß-Foto von ihm. Zu sehen ist ein entschlossen blickender Mann mit Schnauzer und dunklem Anzug. Thomas Breit hat sich als Theologe gegen die Nazi-Diktatur gewandt. "Kollegen von ihm, Dietrich Bonhoeffer, wurden hingerichtet, und er hat auch oft Probleme gehabt und hat auf sein Leben aufpassen müssen", erklärt sie. Er ist ihr Vorbild, auch sie will für die Demokratie kämpfen.
Gesellschaft ohne Rassismus
Sarah Ott will sich besonders dafür engagieren, dass sich gesellschaftspolitisch etwas verändert. Ihr Mann stammt aus Indien, seit einigen Monaten haben sie eine kleine Tochter. "Der Rassismus ist auch krass. Mein Lebensgefährte ist Ausländer. Da fällt mir auch auf, wie mit ihm umgegangen wird. Meine Tochter wird in verschiedenen Kulturen aufwachsen, da ist mir auch wichtig, dass das in die richtige Richtung geht in der Gesellschaft."
Das Potenzial liegt auf der Straße
Dass in den Demonstrationen das Potenzial für eine Politisierungswelle schlummert, glaubt auch CDU-Chef Friedrich Merz. In der ARD-Talkshow Caren Miosga sagte er: "Wenn jeder zehnte von denen, der heute demonstriert hat, morgen in eine politische Partei eintritt, dann ist mindestens genauso viel geholfen." Die politischen Parteien bräuchten mehr Mitglieder, mehr Engagement der Bürgerinnen und Bürger, so Merz. Aber schaffen die Leute denn diesen Sprung vom "auf die Straße gehen" zum Parteieintritt?
Spürbar mehr Mitglieder bei den bayerischen Landtags-Parteien
Nachgefragt bei den Parteien im Bayerischen Landtag: Grüne, SPD, CSU, Freie Wähler und auch die AfD sagen, die Eintrittszahlen seien in den vergangenen Wochen spürbar gestiegen. Genaue Zahlen können viele der Parteien jedoch erst in den kommenden Wochen liefern, wenn alle eingegangenen Anträge ausgewertet sind. Und: Vergleichszahlen zum Vorjahr liefern sie alle nicht. Lässt sich also der gefühlte Mitgliederzuwachs mit den Demonstrationen in Zusammenhang bringen?
Politikwissenschaftlerin mahnt zur Vorsicht
Für Politikwissenschaftlerin Jasmin Riedl wirken die Correctiv-Recherche und die darauf folgenden Demonstrationen gegen Rechtsextremismus zumindest als Beschleuniger. Besondere Ereignisse hätten grundsätzlich einen gewissen Anziehungseffekt für Parteien. Sie warnt aber zur Vorsicht: Zu viel dürfe man in die Zahlen nicht hineininterpretieren. Das alles sei eine Momentaufnahme.
Aber grundsätzlich sind die Demos, die Parteieintritte aus ihrer Sicht ein gutes Zeichen: "Jetzt gerade sehen wir, dass Teile der Bevölkerung sich zumindest symbolisch engagieren, indem sie ihren Zuspruch kundtun für eine Partei. Dann ist es doch erst mal etwas, wo man sagen kann: Gut, die Leute scheinen ein politisches Interesse zu haben, sich politisch zu beteiligen wollen. Das ist doch erstmal nichts Schlechtes."
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!