Nur zögerlich lässt Hasiba einen Blick auf ihre Füße und Hände zu. Der 18-Jährigen ist anzusehen, dass sie sich schämt. Denn Finger und Zehen sind verwachsen. Die Verbrennungen, die Hasiba nach einem Bombenanschlag der Taliban auf ihr Elternhaus erlitten hat, haben die Haut so angespannt, dass die Zehen im Laufe des Wachstums quer übereinanderliegen. Der kleine Finger an der rechten Hand ist so zusammengezogen, dass er auf der Handinnenseite klebt.
Verstümmelt durch Bombenanschlag
Nun sitzt Hasiba auf einer Liege in der Regensburger Klinik St. Josef. Hier werden ihre Verbrennungen behandelt, in mehreren Operationen die Finger und Zehen wieder in die richtige Stellung gebracht. Notwendigerweise. "Diese starken Verbrennungen sind fast wie ein Panzer", sagt Professor Lukas Prantl, Facharzt für plastische Chirurgie an der Klinik St. Josef. Der Spezialist hat bereits sehr viele Kriegswunden gesehen. "Die Gliedmaßen werden steinhart und die Beweglichkeit ist komplett weg. Und wenn man hier jetzt nichts machen würde, dann wäre die Patientin in ein paar Jahren bewegungsunfähig." Das Ergebnis einer ersten OP stimmt positiv: Dunkelrote Narben am linken Fuß und an der linken Hand. Aber Zehen und Finger sind wieder an ihrem Platz. Hier könnte die Geschichte zu Ende sein. Jedoch der Weg aus Afghanistan hierher war und ist alles andere als einfach - für Hasiba und ihre ganze Familie.
Private Initiative ermöglicht OP in Deutschland
Bis Hasiba in Deutschland operiert werden konnte, hat es lang gedauert, weiß Juliane Zitzlsperger, die während der Untersuchung Hasiba zur Seite steht. Die Regensburgerin kennt die tragische Geschichte hinter den Wunden. Nachdem sie und ihr Vater davon gehört haben, setzten sie alles in Bewegung, um Hasiba nach Deutschland zu holen: An seinem 85. Geburtstag hat der Vater seine Gäste nur um Spenden für Hasiba gebeten. Tochter Juliane erstellte ein Dossier, dass das Schicksal von Hasibas Familie, deren Engagement für die deutschen und amerikanischen Truppen und letztlich deren Opfer dokumentierten. Am Ende mit Erfolg: Am 15. August 2021 ist Hasiba mit einem der letzten offiziellen Flüge aus Afghanistan nach Deutschland gekommen. Es ist der Tag, an dem Kabul von den Taliban erobert wurde.
Rückkehr der Taliban: Ortskräfte bleiben in Gefahr
Auch Noor kennt die Bilder von verzweifelten Menschen, die sich an startende Flugzeuge klammerten, aus Angst vor dem Taliban-Regime. Seit 2015 lebt Noor in Deutschland, viele Jahre davon bei Juliane Zitzlsperger. Ihr Telefon benutzt der 22-Jährige auch heute noch, um mit der Heimat zu telefonieren. Oft liegt die Stirn des jungen Mannes dann in Falten, ist die Stimme brüchig. Gerade hat Noor die Nachricht bekommen, dass sein Onkel von der Taliban verhaftet wurde. "Das ist unrecht", sagt er zum neuen Bürgermeister seines Dorfes und verweist darauf, dass die Taliban ja Amnestie versprochen hätten. Man werde über seinen Fall sprechen, so das Ergebnis des Gesprächs. "Natürlich habe ich jetzt Angst um meinen Onkel. Den Taliban kann man nicht trauen." Seinen Vater hat er gewarnt, sich nicht zu viel in der Öffentlichkeit zu bewegen. Bis spät in die Nacht wird Noor weiter verhandeln.
Bürokratie erschwert ehrenamtliche Afghanistan-Hilfe
Während Noor im Wohnzimmer telefoniert, gewährt Juliane Zitzlsperger einen Blick in das zusammengestellte Dossier, damit Hasiba nach Deutschland geholt werden konnte. "Es geht ja auch darum, dass man immer beweisen muss, dass die Geschichte stimmt. Aber mit einem Foto ihrer Verletzungen wäre das doch geklärt gewesen." Zitzlsperger hätte sich von den deutschen Behörden mehr Verständnis für Hasiba und mehr Unterstützung, Geld oder Kontakte für ihr privates Engagement erhofft. "Stattdessen musste Hasiba erst ins Konsulat nach Islamabad, sprich: 600 Kilometer fahren, um unter Tränen ihre Füße zu zeigen." Drei Jahre haben die Mühen gedauert, bis Hasiba nach Deutschland geholt werden konnte.
Rückzug aus Afghanistan: „Falsches Spiel“
Dabei lässt das Dossier keine Zweifel offen: Zu sehen sind Fotos der Familie, eines Dorfes in der Wüste und von Männern in Uniform; Ausweise in englischer und deutscher Sprache, die belegen, dass mehrere Onkel für die internationalen Truppen in Afghanistan gearbeitet haben; Leichenfotos und Screenshots, die zeigen, wie brutal das Engagement für den Westen gerächt wurde. Zitzlsperger erinnert sich gut daran, als 2019 zwei Onkel getötet wurden. "Das war auch für mich ein traumatisches Erlebnis. Noor und ich saßen hier die ganze Nacht und haben geweint." Umso schlimmer empfindet Noor, dass der Westen nach zwanzig Jahren seine Verbündeten einfach zurücklässt. "Das war ein falsches Spiel. Nicht militärisch wurde der Krieg verloren, sondern politisch. Und das ist eine Schande." Er hofft, dass zumindest die deutsche Gesellschaft ihre Notlage erkennt.
Integration der Ortskräfte und ihrer Familien
Von dem Blick zurück hält Noor seine Schwester Hasiba lieber fern. Hasiba spricht auch nicht gerne über die Taliban und das, was ihr und ihrer Familie angetan wurde. "Ich halte von solchen Menschen nichts," sagt Hasiba und wendet ihren Blick lieber auf den vor ihr liegenden Papierblock. Aus einem Deutschbuch für Lernende persischer Sprache zitiert Noor das Wort ‚Marmelade‘. Trotz den Wunden an der rechten Hand schreibt Hasiba das Wort in Schönschrift auf den Block. Auf eine Magnettafel daneben haben die Geschwister zuvor schon zwei Wörter gelegt: ‚Deutschland‘ und ‚Bayern‘. Sie nennen es ihr neues Zuhause.
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