Wie in vielen Gemeinden Deutschlands gehen auch in Kempten viele Menschen davon aus, dass der Nationalsozialismus von außen in die Stadt hineingetragen wurde und dass die Stadtgesellschaft ihm ablehnend gegenüberstand. Doch entspricht das wirklich der Wahrheit? Die Stadtverwaltung Kempten hat 300.000 Euro bereitgestellt, um herauszufinden, welche Rolle der Nationalsozialismus in der Stadt damals wirklich spielte. Wer unterstützte ihn? Und wer profitierte davon?
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Nationalsozialismus mitten aus der Gesellschaft heraus
Die wichtigste Erkenntnis: Die Annahme, der Nationalsozialismus sei von außen gekommen, ist nicht länger haltbar. Zu diesem Ergebnis kommt das Münchner Institut für Zeitgeschichte, das den wissenschaftlichen Aufarbeitungsprozess im Auftrag der Stadt Kempten durchführt.
Projektleiterin Martina Steber fasst ihre bisherigen Forschungsergebnisse im BR-Politikmagazin Kontrovers so zusammen: "Der Nationalsozialismus, das hat die Forschung der letzten Jahrzehnte gezeigt, kam mitten aus Stadtgesellschaften heraus, das gilt für Kempten genauso wie für andere Städte, Gemeinden und Dörfer im ganzen Reich."
Stadtverwaltung setzte nationalsozialistische Politik um
Auch in Kempten wurden Juden misshandelt, ausgegrenzt und deportiert. Es gab ein KZ-Außenlager in der Kälberhalle mitten in der Stadt. Das Institut für Zeitgeschichte untersucht jetzt, wer dafür gesorgt hat, dass sogenannte "Asoziale" ins Konzentrationslager gebracht wurden. Welche Rolle spielte dabei der damalige Oberbürgermeister Otto Merkt?
Er war ein Politiker, der viel für Kempten getan hat. Doch er war damals auch für die Gesundheitspolitik in der Stadt verantwortlich. Dazu sagt Projektleiterin Martina Steber: "Es war eine völkische Gesundheitspolitik, die Menschen mit Behinderung als lebensunwertes Leben betrachtet hat und sie dann in Anstalten verlegt und letztlich in den Tod geschickt hat." Aktuell untersucht das Institut auch, welche Rolle die Stadtverwaltung bei Arisierungsprozessen und bei der Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung in Kempten spielte.
Widerstand gegen die Aufarbeitung der NS-Zeit
Obwohl längst überfällig, war die Aufarbeitung der eigenen Stadtgeschichte in Kempten anfangs sehr umstritten. Martin Fink von der Stadtverwaltung zeigt Kontrovers einige Zuschriften. Darin wird kritisiert, dass die Aufarbeitung "tiefe Gräben in Kempten aufgerissen" hat. Manch einer fordert allgemein: "Verschonen Sie uns mit Vergangenheitsbewältigungsversuchen." Sogar Drohungen sind dabei. In einer Zuschrift heißt es: "Geben Sie sehr genau acht darauf, wie Sie sich als Mitarbeiter der Verwaltung verhalten und positionieren."
"Ganz viele Briefeschreiber oder Menschen, die mir Mails geschrieben hatten, hatten das Gefühl, dass jetzt ein wütender Mob loszieht und irgendwelche Denkmäler stürzt. Darum geht es uns nicht. Es geht erst mal darum, zu verstehen, was da passiert ist." Martin Fink, Stadt Kempten
Holocaustleugner auf Straßenname
Für die Stadt sei die wissenschaftliche Aufarbeitung der erste Schritt, sagt Martin Fink. "Wir müssen uns dann überlegen: Was machen wir mit diesen Informationen?" Zur Zeit werden mehr als 70 Straßennamen überprüft.
Die Knussert-Straße soll jetzt umbenannt werden, denn der Lehrer und Heimatforscher Richard Knussert hat bis zu seinem Tod den Holocaust geleugnet. Die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit ist ein schmerzhafter Prozess für viele Kemptener. Er hat gerade erst begonnen.
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